Wie Inseln im Licht
Wow! "Wie Inseln im Licht" von Franziska Gänsler hat mich richtig mitgenommen! Definitiv ein Highlight des Bücherjahrs und ein Roman, den ich allen empfehlen kann, die sich von ihrer Lektüre gerne emotional herausfordern lassen.
Franziska Gänsler hat letztes Jahr mit ihrem Debütroman "Ewig Sommer"* schon viele begeistert. Ich habe es jetzt zuerst mit ihrem Zweitling "Wie Inseln im Licht" probiert. Meine liebe Bloggerkollegin Tina hat mir beim Lesen Gesellschaft geleistet und unser erster #buddyread hat sich gleich als Highlight entpuppt!
Franziska Gänsler erzählt in "Wie Inseln im Licht" von Zoey, die gerade ihre Mutter verloren hat. Sie befindet sich bei Bordeaux an der Atlantikküste. Hier hat sie mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester Oda vor zwanzig Jahren einen Teil ihrer Kindheit auf einem Campingplatz verbracht. Und hier möchte sie die Asche ihrer Mutter ins Meer streuen.
"...ich wünschte, es gäbe eine Form der Spiritualität in meinem Leben, eine Vorstellung von der Mutter im Paradies, was immer das für sie wäre. Ich wünschte, jemand würde sie dort begrüßen, in einem Nest aus perfekten weißen Wolken und Licht. Ich wünschte, jemand würde ihrer Vorsicht, ihrer Zurückhaltung mit Wärme begegnen und ihr sagen, jetzt ist es vorbei, tout est okay. Ab jetzt ist alles leicht für dich." / S. 15
In Rückblenden verrät uns Zoey, eine Studentin der Kunstgeschichte Ende 20, mehr über ihr bisheriges Leben und versucht gleichzeitig selbst, ihren Kindheitsjahren und den damaligen Geschehnissen auf die Spur zu kommen. Denn der Tod der Mutter ist nicht ihr erster Verlust. In der Zeit auf dem Campingplatz ist Zoeys kleine Schwester Oda verschwunden. Was ist damals geschehen? Lebt Oda vielleicht noch? Weshalb ist die Mutter nach den tragischen Ereignissen mit Zoey nach Berlin gegangen und ist da von Jahr zu Jahr weniger geworden, bis, ja, bis sie eben gestorben ist?
Franziska Gänsler nimmt uns mit auf eine sehr bewegende innere Reise von Zoey, zurück in die Vergangenheit, ganz tief in ihre Erinnerungen und Gefühle. Und gleichzeitig schildert sie äusserst bildgewaltig und intensiv Zoeys aktuelle Trauer - sowohl um die Mutter als auch erneut um ihre kleine Schwester.
"Die Mutter, Oda und ich. Wir waren ein Körper mit drei Köpfen, und der Wagen war unsere Höhle. Unser Herz war ein Herz. Nachdem Oda, ihr kleines Lachen, von uns getrennt worden war, hörten die Mutter und ich nie auf zu bluten." / S. 23
Eine dichte, bildgewaltige, emotionale Erzählung
"Wie Inseln im Licht" ist gleichzeitig sehr emotional und spannend, weil wir natürlich wissen wollen, was da vorgefallen ist. Geschickt legt Franziska Gänsler verschiedene Fährten, die manchmal in die Irre, manchmal ins Leere führen und manchmal vielleicht etwas Wahres an sich haben. Aber der Roman ist nicht einfach ein Krimi, in dem ein Fall gelöst wird. Vielmehr geht es hier auch ganz stark um die Hintergründe von Lebensentscheidungen und Lebensgestaltungen, ja, sogar darum, weshalb die Mutter so wurde, wie sie in den letzten Jahren war - abgeschottet in der Berliner Wohnung, ohne Kontakte gegen aussen, allein mit ihrer Tochter Zoey und gedanklich wohl auch mit der kleinen Oda.
"Das Leben der Mutter bestand aus Lücken, war ein Text, in dem seitenweise geschwärzt worden war, was sie nicht ertrug. Das Lesbare, das Erträgliche, war die immer gleiche Zeile: sie und ich in der Dachwohnung." / S. 37
Das Buch hat mir - im besten Sinne - sehr viel abverlangt, mich immer wieder zum Weinen gebracht und ich konnte es kaum aus der Hand legen. Das lag neben der aufgebauten Spannung und Nähe zu Zoey - Ich-Perspektive sei Dank - auch an Franziska Gänslers Sprache. So viele wunderbare Zitate habe ich mir schon lange nicht mehr markiert. Die 1987 geborene Autorin überrascht immer wieder mit neuen Bildern und poetischen Formulierungen, ohne es zu übertreiben.
Franziska Gänsler flicht in die Geschichte auch noch Nebenplots wie etwa eine lesbische Erfahrung, eine ältere Campingplatzbewohnerin, die versucht, mit ihrer Enkelin ein Influencer-Business aufzubauen, oder Zoeys Liebe zur Kunst ein. Was es mit der Kunst und insbesondere mit Zoeys Faszination für die britische Künstlerin Tracey Emin auf sich hat (ausser dass sie und Zoeys Mutter den Geburtstag teilen), hat sich mir nicht ganz erschlossen. Da wäre es sehr spannend, von der Autorin mehr zu erfahren. Ganz grob könnte man vielleicht sagen, dass es der Autorin - wie der Künstlerin - darum geht, direkt auf den Kummer zu schauen, Trauer bildlich und sprachlich zu fassen und so als Teil der Trauerarbeit zu begreifen. Idealerweise, um sie dann gehen zu lassen, wieder Licht zu sehen, Hoffnung zu schöpfen.
"Ich weiß, dass ich viel Ungutes erlebt habe, aber niemand konnte sie verstehen außer mir. Niemand kannte dieses Leben unter Wasser außer uns." / S. 96
Insgesamt spricht Franziska Gänsler in ihrem doch schmalen Roman erstaunlich viele Themen an, wobei die Mutter-Tochter-Beziehung im Fokus steht. Eine Beziehung, die von aussen betrachtet zwar symbiotisch, aber auch stark dysfunktional war. Eine Beziehung, die sich rein um den gemeinsamen Verlust, die zugrundeliegenden Entscheidungen und nachfolgenden Handlungen und das allgegenwärtige Schweigen drehte und somit unweigerlich auf einen Abgrund zusteuerte. Und auch wenn wir das Verhalten der Mutter nicht vollumfänglich verstehen können, so erklärt es Franziska Gänsler doch so glaubwürdig, dass wir es im Grundsatz nachvollziehen können.
Fazit
"Wie Inseln im Licht" von Franziska Gänsler hat mich sehr gefesselt und beeindruckt. Diese Lektüre ist ein sprachlicher Genuss, eine emotionale Welle und erst noch eine spannungsgeladene, vielschichtige Erzählung. Definitiv ein Jahreshighlight, das Lust auf mehr von dieser talentierten Autorin macht und noch lange nachhallt!
Fakten
Franziska Gänsler
Kein & Aber
208 Seiten
Erschienen am 15.03.2024
Hardcover (auch als E-Book erhältlich)
ISBN: 978-3-0369-5034-1
PS: Herzlichen Dank an Kein & Aber und an NetGalley für das digitale Rezensionsexemplar. Seitenzahlen beziehen sich auf die E-Book-Version und können von der Printversion abweichen.
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