Wenn wir wieder Menschen sind
Zum Jahresende möchte ich euch noch mein Jahreshighlight vorstellen. Es ist Tanja Miljanovićs Debütroman "Wenn wir wieder Menschen sind". Ein eindringlicher, dramatischer und doch verspielter autobiografischer Roman über das Aufwachsen und Leben in Zeiten der Jugoslawienkriege.
Ich muss zugeben, dass ich kaum Worte finde, um diesen Roman zu beschreiben, nicht, weil er irgendwie überkomplex oder unverständlich wäre oder ähnliches. Aber es ist kaum möglich, der Geschichte und der besonderen Sprache der Berner Autorin Tanja Miljanović mit Wurzeln in Bosnien und Herzegowina gerecht zu werden.
Natürlich unternehme ich hiermit trotzdem einen Versuch, euch "Wenn wir wieder Menschen sind" näher zu bringen. Tanja Miljanović nimmt uns in ihrem autobiografisch gefärbten Roman mit in ihre Kindheit, die mit dem Kriegsausbruch in Bosnien Anfang der 1990er-Jahre eine tragische Wende nahm. Aus der Sicht der damals 9-jährigen Ich-Erzählerin erfahren wir, wie sich der Krieg langsam näherte und wie viele doch immer noch glaubten, er käme nicht nach Bosnien, lebten sie hier doch friedlich beisammen. Tanjas Vater befand sich zu jener Zeit meistens als Gastarbeiter in der Schweiz, was im Verlauf des Kriegs ihr Glück war, denn so konnte die Familie zu ihm in die sichere Schweiz fliehen.
Tanja ist ein sehr neugieriges, selbstbewusstes und abenteuerlustiges Kind und erhält sich ihre Kindlichkeit auch unter den bedrückenden, bedrohlichen Umständen, in denen sie aufwächst. Mit ihrem ganz eigenen Blick versucht sie, sich die Welt zu erklären, die plötzlich aus den Angeln gehoben wird. Ihre Urgrossmutter war im Zweiten Weltkrieg gestorben, so weit will sie es auf keinen Fall kommen lassen:
"Das mit dem Sterben war nicht schön ... wirklich nicht. Sogar ausgesprochen doof war es, wenn wir ehrlich sind. Also tat ich, was getan werden musste, und beschloss, eine Partisanin zu werden, deren Mutter nicht stirbt." / S. 42
Tanja Miljanović erzählt direkt, frisch, frech und auch mal derb von den damaligen Geschehnissen rund um Tanjas Familie. Dabei wechselt sie auch mal die Perspektive zu Tanjas Grossmutter, die den Zweiten Weltkrieg er- und überlebt hatte, zu Onkel Marko, der widerwillig im Krieg kämpft, sogar mit relativ hohem Rang, zu Alima, der Schwester von Markos bestem Freund, die mit ihrer Tochter in ein "Frauenlager" geraten ist.
Abschnitte, die von Handlung getrieben sind, wechseln sich mit Dialogen und Gedanken der Erzähler:innen ab. So wird der Text vom Plot angetrieben, aber beinhaltet auch viele philosophische und poetische Abschnitte, die Themen wie den Umgang (ein zynischer Euphemismus in diesem Zusammenhang) mit Frauen im Krieg, das Verständnis von Heimat, das Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien, Freundschaft und Familie, Sinn und Unsinn von Nationalstaaten oder intergenerationale Traumata ansprechen.
"Deine Heimat ist kein Ort im geografischen Sinne, deine Heimat bist du und die Kontinuität deiner selbst, deine Heimat bist du und deine Erfahrungswelt. Sie ist dort, wo du bist. Wenn also die Heimat im Krieg versinkt, dann lösen sich Menschen auf." / S. 170
Sprachlich erfreut uns Tanja Miljanović immer wieder mit eigenwilligen Wendungen und kreativen Metaphern. Auch Wortneuschöpfungen sind dabei, wobei sie da das eine oder andere Mal etwas zu weit geht für meinen Geschmack (der selbstverständlich sehr subjektiv ist).
"Ich verstand nur Durchzug..." "...strahlte er wie ein fröhliches Pockenvirus auf LSD..." / S. 21 "Die Wolkenfront kam von rechts über die Hügel angerollt, Großmutters Haus lag links, und ich befand mich wie der Käse im Faustbrot genau dazwischen." / S. 144
Gekonnt verbindet die Autorin auch Erinnerungen und Gefühle aus ihrer Kindheit mit differenzierten Gedanken über Krieg, Gewalt und Machtmissbrauch, die sie sich erst jetzt aus Erwachsenenperspektive machen kann. Indem sie ihre beiden Heimaten Bosnien und die Schweiz in den Roman einfliessen, ja verschmelzen lässt, streicht sie das universell Menschliche heraus, an das bestimmt jede:r Leser:in anknüpfen kann.
"Großmutter konnte man sowieso nie lange böse bleiben, dafür duftete sie zu sehr nach Güte." / S. 8
Auch wenn "Wenn wir wieder Menschen sind" sehr harte Themen anspricht, Gewalt (darunter auch Vergewaltigung) darstellt und uns als Leser:innen tief in moralische Dilemmata stürzt, verleiht der Roman auch Hoffnung, indem eine Geschichte erzählt wird, wir diese lesen und damit die Menschen dieser Geschichte als solche wahrnehmen: als Menschen.
"Das Universum setzt sich aus unendlich viel Nichts und nur einer kleinen Handvoll Etwas zusammen. Zwischen den Sternen nichts, zwischen den Planeten nichts, zwischen den Menschen nichts, zwischen den Atomen nichts, zwischen den Quarks, Gluonen, Hicks – nichts. Nichts, nichts und wieder nichts. Und doch gibt es Etwas, ein Sein, ein Handeln, ein Leben. Eine Geschichte." / S. 168
Fazit
"Wenn wir wieder Menschen sind" von Tanja Miljanović ist für mich ein Roman über das Erleben von Krieg, Gewalt und Flucht, sicher. Es ist aber auch ein Buch über das Überleben der Menschlichkeit in menschenfeindlichen Konflikten. Ein Buch, das mitnimmt, schmerzt und nachhallt und das ich jederzeit nochmals lesen würde.
Die Fakten
Tanja Miljanović
Zytglogge Verlag
348 Seiten
Erschienen am 09.09.2024
Hardcover
ISBN: 978-3-7296-5160-9
PS: Herzlichen Dank an den Zytglogge Verlag für das digitale Rezensionsexemplar. Die Seitenzahlen beziehen sich auf das E-Book und können von der Printversion abweichen.
Weitere Bücher auf mint & malve mit ähnlichen Themen
Lichtungen - Iris Wolff (Klett-Cotta 2024)
Nirgendwo. Überall. Die Geschichte einer europäischen Familie - Nathalie Sassine-Hauptmann (2024)
Vatermal - Necati Öziri (Claassen 2023)
Angelina - Verlorene Familie - David Bielmann (Zytglogge Verlag 2023)
In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel - Samira El-Maawi (Zytglogge 2021)
Herkunft - Saša Stanišić (Luchterhand 2019)
In der Fremde sprechen die Bäume arabisch - Usama Al Shahmani (Limmat Verlag 2018)
* Links mit * sind Affiliate-Links / Werbelinks. Wenn du das Buch oder Hörbuch über diesen Link kaufst, bekomme ich vom jeweiligen Shop eine kleine Provision. Am Buchpreis ändert sich für dich nichts. Du hilfst mir aber so, den Blog ein kleines Bisschen zu refinanzieren. Vielen Dank!