Umlaufbahnen
- Eliane Fischer
- 11. Feb.
- 4 Min. Lesezeit
Das Weltall und die Raumfahrt sind nicht unbedingt Themen, die mich besonders interessieren. Aber Samantha Harveys vielgelobtem und preisgekröntem Roman "Umlaufbahnen" wollte ich dann doch eine Chance geben. Ob es sich gelohnt hat?

Kurz: Ja. Und ich würde sagen, das liegt einfach gesagt daran, dass Samantha Harvey ihren Roman zwar im Weltall angesiedelt hat, dass es aber eigentlich um essenziell Menschliches und essenziell Irdisches geht. Und das rückt sie gerade durch die veränderte Perspektive und das ständige Umkreisen der Erde ins "richtige" Licht.
«Ohne die Erde sind wir alle erledigt. Nicht eine Sekunde könnten wir ohne ihre Gnade überleben, wir sind Seefahrer auf dunkler, gefährlicher See, ohne unser Schiff würden wir ertrinken.» / S. 15
Aber kommen wir zuerst kurz zum Plot und Aufbau von "Umlaufbahnen": Wir befinden uns mit sechs Astronaut:innen aus aller Welt in einer Raumstation (faktisch auf der ISS; wird aber nie so benannt) auf einer Umlaufbahn 400 Kilometer hoch über der Erde. Mit einer Geschwindigkeit von achtundzwanzigtausend Kilometern pro Stunde rasen wir um die Erde. Die Kapitel entwickeln sich entlang der sechzehn Umlaufbahnen, die die Raumstation innert vierundzwanzig Stunden um die Erde zurücklegt. Mit jeder Umlaufbahn verschiebt sich die Raumstation etwas und damit auch die Perspektive auf die Erde.
«Von der Raumstation aus betrachtet ist die Menschheit ein Wesen, das sich nur bei Nacht blicken lässt. Die Menschheit ist das Licht der Städte und die beleuchteten Glühfäden der Straßen.» / S. 22
Samantha Harvey springt von Chie, deren Mutter soeben verstorben ist, zu Pietro, Anton, Roman, Nell und Shaun. Lässt uns sowohl an ihrem Alltag in der Schwerelosigkeit teilhaben als auch an ihren Gedanken über die Erde, die Menschen und ihre jeweils eigenen Geschichten. Die britische Autorin schafft es so, uns die Erde und die Gesellschaft von aussen zu zeigen und gleichzeitig über die Protagonist:innen immer wieder starke emotionale Verbindungen zu den Geschehnissen und zum Menschsein auf der Erde herzustellen.
Was vielleicht etwas repetitiv erscheinen mag, ist es aufgrund der unterschiedlichen Perspektiven verschiedener Personen und unterschiedlichen Blickwinkeln auf die Erde überhaupt nicht. Besondere zusätzliche Abwechslung bringt die Tatsache herein, dass die Astronaut:innen auf der Erde den Aufzug eines historisch aussergewöhnlich starken Taifuns beobachten und gleichzeitig ein Raumschiff in Richtung Mond an ihnen vorbeizieht.
«Wahrscheinlich ist das eine kindische Vorstellung, aber ihm kommt der Gedanke, dass man die Erde, könnte man sich nur weit genug von ihr entfernen, endlich verstehen könnte – sie mit den eigenen Augen als Objekt sehen könnte, als einen kleinen blauen Punkt, eine kosmische und geheimnisvolle Sache.» / S. 65
Besonders eindrücklich finde ich, wie schwerelos Samantha Harveys Sprache ist. Sie ist einfach, aber poetisch, hat etwas Mäanderndes, ohne den Fokus zu verlieren. Sie geht auf grosse Themen wie die Klimakrise, die Lichtverschmutzung oder den Sinn und Unsinn der Raumfahrt ein, wird aber nie trocken, sondern bleibt über die menschlichen Bindungen, Erinnerungen und Anekdoten immer auch emotional und nah an den Menschen. Das Buch ist nicht einfach eine beschönigende Ode auf die Erde, sondern auch eine deutliche Zivilisationskritik.
Fazit
"Umlaufbahnen" von Samantha Harvey erlaubt uns - gerade in diesen irgendwie absurden Zeiten - aus dem Alltag hinaus zu treten, mit den Protagonist:innen im Weltall Abstand zur Erde und damit zum Hamsterrad des Alltags zu gewinnen. Dadurch erhalten wir als Leser:innen gemeinsam mit der Autorin bzw. ihren Figuren wieder einen Blick auf das grosse Ganze und können uns Gedanken machen über unsere Rolle darin. Und so kommen wir auf unserer literarischen Realitätsflucht unvermeidlich wieder zurück auf die Erde und das, was die Gesellschaft - frei nach Goethe - im Innersten zusammenhält. Ich kann euch dieses überirdische Leseerlebnis nur von Herzen empfehlen.
PS: "Umlaufbahnen" bzw. im Original "Orbitals" hat den Booker Prize 2024 gewonnen.
Die Fakten
Samantha Harvey
Julia Wolf (Übersetzung aus dem Englischen)
dtv Verlag
224 Seiten
Erschienen am 14.11.2024
Hardcover
ISBN: 978-3-423-28423-3
PS: Herzlichen Dank an den dtv Verlag für das digitale Rezensionsexemplar. Seitenzahlen beziehen sich auf das E-Book und können von der Printversion abweichen.
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