Über den Fluss
Der Debütroman "Über den Fluss" von Theresa Pleitner nimmt uns mit über das titelgebende Gewässer in eine Asylunterkunft und damit ein ganz spezielles System.
Ein System, das oberflächlich zwar funktioniert, aber auf Kosten der Geflüchteten. Und ein System, indem auch die Menschen, die wie Theresa Pleitners Erzählerin helfen wollen, gezwungenermassen Fehler machen. Denn ihr Handlungsspielraum ist durch die politisch gesetzten Regeln sehr begrenzt. So eng, dass der Versuch, einer geflüchteten Person zu helfen, sich ins Gegenteil verkehren kann. Es ist gar nicht mehr klar, was "helfen" in diesem Kontext überhaupt bedeutet.
Die namenlose Ich-Erzählerin von "Über den Fluss" ist Psychologin. Frisch von der Uni nimmt sie die Stelle in einer eigentlich nur provisorischen Asylunterkunft auf der anderen Seite des Flusses an. Die Unterkunft befindet sich in einem Industriequartier, in einer ehemaligen Logistikhalle, Niemandsland am Stadtrand quasi. Das Leben pulsiert auf der anderen Seite. Hier herrschen Angst, Traumata, Unsicherheit und deren vielfältige Symptome.
Das zweiköpfige Team der Psychologin Ines und der Ich-Erzählerin versucht den Geflüchteten beizustehen. Eine eigentliche Behandlung ist kaum möglich. Viele erhalten in der Zeit ihres Aufenthalts an diesem Nicht-Ort das "Weisse Papier". Was bedeutet, dass sie in der Regel innert eines halben Jahres ausgeschafft werden. Für viele nichts anderes als ein Todesurteil. Da mutet die Bezeichnung "Gast" für die Geflüchteten fast sarkastisch an:
"Vermutlich war sie [die Bezeichnung, a.d.R.] willkommen heissend gemeint, doch auch der vorübergehende Aufenthalt in diesem Land klang in ihr an wie ein Urteil: Gäste gingen wieder, sie waren nicht befugt, zu bleiben." (S. 14)
Wir begleiten die Psychologin, die eine Art Rechenschaftsbericht ablegt, nachdem etwas sehr Schlimmes passiert ist, immer wieder über den Fluss zur Arbeit und zurück über dieselbe Brücke zu ihr nach Hause. Dort kommt sie allerdings psychisch je länger, je weniger überhaupt noch an. Die Arbeit beschäftigt sie gedanklich Tag und Nacht. An ihrem eigenen Beispiel und demjenigen ihrer Kollegin Ines sowie anderer Angestellter der Unterkunft (zum Beispiel einem Schichtleiter und einem Ausschaffungspolizisten) zeigt sie, wie schwer es ist, in einem solchen System noch "richtige" Entscheidungen zu fällen, moralisch und gleichzeitig rechtlich korrekt zu handeln. Und dann muss man auch noch irgendwie mit dem Erlebten zurechtkommen - mit all der Unsicherheit und Verzweiflung auf der einen und all der Hilflosigkeit und beschränkter Handhabe auf der anderen Seite.
"Die Routine bewahrte sie [Ines, a.d.R] wohl davor, dass sie all das zu sehr mitnahm, doch ich hatte den Eindruck, sie hielt sich durch die Routine auch fern, als wäre dieser fremde Mann selbst das Unglück, das ihm widerfuhr..." (S. 22)
Der Roman entwickelt sich auf das eingangs erwähnte, aber nicht geschilderte Ereignis hin. Die Konstruktion erschien mir eingangs spannend, vermag aber nicht über die aneinandergereiten Einzelschicksale zu tragen. Was nicht heissen soll, dass diese Schicksale nicht erzählenswert, nicht erschütternd wären. Im Gegenteil: Es erschien mir bis zum Schluss nicht ganz logisch, weshalb ich all das lesen soll, auf dem Weg zum abschliessenden Ereignis. So verlieren die Geschichten auf dem Weg fast etwas an Bedeutung, was wiederum schade ist und bestimmt nicht das Ziel der Autorin war.
Mit "Über den Fluss" liefert Theresa Pleitner keine umfassende Analyse des in sich ungerechten Asylsystems oder bietet gar Lösungsansätze dafür. Das soll auch nicht der Anspruch sein. Vielmehr nimmt sie uns mitten hinein in das Beziehungsnetz, das Machtgefüge, den Alltag, der Aufgrund der Umstände nie alltäglich ist und die Beteiligten zu Entscheidungen zwingt, die über nichts Geringeres als die Würde der Menschen entscheiden.
"Hatte ich nicht bedacht, dass ich mit meinem Kittel in eine Rolle schlüpfen, gewissermassen ein Glied jenes Asylsystems werden würde, dem ich doch gerade etwas entgegensetzen wollte?" (S. 27)
Ganz am Rande flicht sie noch eine queere Liebesgeschichte ein. Das fand ich einerseits gut, um der Ich-Erzählerin eine private Seite zu attestieren. Andererseits bleibt dieser Erzählstrang auch etwas blutleer.
Die Wahl der Fluss-Metapher ist zugegebenermassen nichts Neues, aber in diesem Fall passt sie sehr gut. Umso mehr, wenn man das tragische Ende kennt. Aber das müsst ihr euch selbst erlesen! Jenseits der Metapher ist die Erzählung sehr nüchtern gehalten. An der einen oder anderen Stelle hätte ich mir doch einen emotionaleren Zugang zu den Geschichten der Geflüchteten gewünscht. Sie sind auch so tragisch, aber die Persönlichkeiten einiger Patient*innen bzw. "Gästen" blieben mir seltsam fern.
Dafür gelingt es ihr insgesamt sehr gut, das Machtsystem und die Verstrickung der Angestellten sowie indirekt von uns allen - die das System stützen - zu verdeutlichen und damit implizit auch Problematiken wie white guilt und white saviorism anklingen zu lassen.
Fazit
Mit "Über den Fluss" gewährt Debütautorin Theresa Pleitner einen bewegenden Einblick in das Asylsystem. Nüchtern erzählt sie von der Zerrissenheit, die sowohl Geflüchtete als auch Angestellte - wenn auch in unterschiedlichem Ausmass existenziell - betrifft. Wie erhält man die Menschenwürde in einem unmenschlichen System? Dass das unmöglich ist und wir alle Teil des Systems sind, führt einem dieser Roman vor Augen - ohne es explizit auszusprechen.
Die Fakten
Theresa Pleitner
S. Fischer Verlag
208 Seiten
Erschienen am 21.02.2023
Hardcover
ISBN: 978-3-10-397194-1
PS: Herzlichen Dank an den S. Fischer Verlag für das Rezensionsexemplar.
PPS: Theresa Pleitner war auch in 1LIVE Stories bei Mona Ameziane zu Gast. Ihr könnt den Podcast auf allen gängigen Plattformen oder auf der Website nachhören.
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