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Penelopes zwei Leben - eine Graphic Novel aus dem Krieg

Judith Vanistendael legt mit "Penelopes zwei Leben" eine eindringliche Graphic Novel über das Leben einer Mutter, Ehefrau und Chirurgin vor. Ein Leben zwischen syrischem Kriegschaos und belgischer Familienidylle.


Penelopes zwei Leben - Judith Vanistendael (Reprodukt 2021)

Penelope arbeitet einen grossen Teil des Jahres als Chirurgin in einem Feldkrankenhaus in Aleppo. Ihre Patient*innen sind oft jung, manche noch Kinder, und nicht immer kann sie ihnen helfen. Seit zehn Jahren operiert sie nun schon im Kriegsgebiet, als sie Ende 2015 nach Brüssel zu ihrer Familie heimkehrt: zum liebenden, verständnisvollen Ehemann und zur Tochter, die bald 14 Jahre alt wird. Doch sie holen sie mittlerweile nicht mehr vom Flughafen ab, sind sich zu gewohnt, dass sie verschwindet und irgendwann wieder auftaucht, um kurz darauf wieder zu verschwinden.


Familienleben oder Kriegsrealität?

Parallel zu den Szenen in Aleppo zeigt Vanistendael in "Penelopes zwei Leben" Szenen ihrer jugendlichen Tochter, die zum ersten Mal ihre Tage bekommt. Weil ihre Mutter nicht da ist, sucht sie Rat bei ihrer Grossmutter. Zurück in Brüssel hat Penelope verständlicherweise Mühe, sich wieder ins Familienleben einzugliedern, den Zugang zu ihrer Tochter zu finden. Ein Stück aus Syrien, aus dem Krieg, ist immer dabei. Und so erscheinen die üblichen Probleme ihres Umfeldes geradezu banal.


Judith Vanistendaels Graphic Novel berichtet von der ganzen Brutalität des Krieges und von der Hilflosigkeit der Menschen, die zu helfen versuchen. Damit wirft die Autorin natürlich auch Fragen an die Leser*innen auf, wie sie mit dem Schicksal der Flüchtlinge und Kriegsopfer vor den Toren Europas leben können. Was sie (du, ich, wir) dagegen tun oder auch nicht. Und wie wir diese brutale Realität oft aus unserem Alltag ausklammern, genauso wie Penelope das auch versucht, um überhaupt so etwas wie ein Familienleben führen zu können.


Diese düsteren Seiten des Buches werden ergänzt um fast beschwingte oder sagen wir erfreulich normale Szenen aus dem Familienleben, wo das grösste Problem auch mal der richtige Wein, der nächste Lateintest oder eine angeblich zu grosse Nase ist. Die Aquarell-Zeichnungen, manchmal zerfliessend und transparent, schaffen einen weiteren Kontrast zur Schwere des Themas.



Homers Odyssee auf den Kopf gestellt

Vanistendael beginnt ihre Graphic Novel mit einer Anspielung auf Homers "Odyssee":


"Mein Name ist Penelope. Ich webe nicht. Ich warte nicht. Ich habe keinen Sohn."

In Homers Epos wartet Penelope auf die Rückkehr ihres Ehemanns Odysseus aus dem Trojanischen Krieg. Hier ist es umgekehrt: Penelope verlässt das zuhause, begibt sich auf eine Irrfahrt in den syrischen Bürgerkrieg, mit unbestimmtem Ausgang, zurück lässt sie Ehemann und Tochter. Es gibt weitere Bezüge, wie dass der Ehemann Dichter ist oder die Tochter Helena heisst. Kenner*innen von Homers Werk können bestimmt noch weitere Details oder Ebenen ausmachen, die sich auf das griechische Epos beziehen lassen. Klar ist, Judith Vanistendael kehrt damit die gängigen Rollenmodelle um. Die berufstätige, unabhängige Frau, die fern der Familie zu helfen versucht, steht dem umsorgenden Ehemann gegenüber, der sich um Kind und Haus kümmert und auf die Rückkehr der Ehefrau wartet.


Moria als Anstoss für das Buch

Im Buch findet sich auch eine Reportage der belgischen Autorin und Comiczeichnerin aus dem Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Der Besuch in Moria war ein Auslöser für die vorliegende Geschichte und wie "Penelopes zwei Leben" ist auch die Reportage Vanistendaels Tochter Hanna (damals 15 Jahre alt) gewidmet.


Fazit

Judith Vanistendael zeichnet mit "Penelopes zwei Leben" ein eindringliches Porträt einer Frau, die zerrissen ist zwischen der Liebe zu ihrer Familie und dem Wunsch, den Kriegsopfern dieser Welt zu helfen. Dabei gelingt es Vanistendael mit ihrer Graphic Novel einen äusserst authentischen Einblick in Penelopes Leben und in ihren Familien- und Beziehungsalltag zu geben. Eine grosse Lese- und Anschauempfehlung, auch zwei- oder dreimal. Gerade mit den Bezügen zu Homer würde sich das Buch auch für einen Lesekreis eignen.


Die Fakten

Judith Vanistendael (Text, Illustration, Handlettering)

Andrea Kluitmann (Übersetzung aus dem Niederländischen)

Reprodukt Berlin

176 Seiten

Erschienen am 04.03.2021

Hardcover

ISBN: 978-3-95640-241-8



PS: Herzlichen Dank an den Reprodukt Verlag für das Rezensionsexemplar.



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