Nie mehr leise. Die neue migrantische Mittelschicht
Ich habe zahlreiche Sachbücher, Berichte, Essays, Ratgeber und Romane rund um Rassismus gelesen. Alle sprechen sie auch Intersektionalität an, aber wohl in keinem Buch wurde das toxische Zusammenspiel verschiedener Diskriminierungsformen bisher so konsequent thematisiert wie in "Nie mehr leise" von Betiel Berhe.
Wie uns der Titel des Buches "Nie mehr leise. Die neue migrantische Mittelschicht" von Betiel Berhe schon verrät, richtet sie den Blick vor allem auf die Schnittstelle von Rassismus und Klassismus. Sie tangiert aber auch sexistische Mechanismen, die im Patriarchat weiterhin wirken.
Die deutsche Autorin ist Ökonomin und Aktivistin und verbindet in ihrem Buch ihr theoretisches Wissen mit ihren eigenen Erfahrungen - sei es nun vom Aufwachsen als Schwarze Person in Deutschland, vom Aufstieg aus der Arbeiter:innenklasse in die sogenannte "migrantische Mittelschicht" oder von ihrer aktivistischen Arbeit. Sie war für verschiedene internationale Organisationen und NGOs tätig, hat das Social Justice Institut in München mitbegründet und ist in rassismuskritischen Netzwerken aktiv.
Entgegen der strukturellen Diskriminierung!
Die Kapitel des Buches hangeln sich entlang ihrer Entwicklung, die gleichzeitig eine Erkenntnisreise rund um Rassismus und Klassismus darstellt. So nimmt sie uns Leser*innen mit vom Aufwachsen als migrantisches Mädchen in einer weissen Mehrheitsgesellschaft, über die Emanzipation von ihrem Herkunftsmilieu durch den Bildungs- und Klassenaufstieg, bis hin zum Erkennen ihrer Wut und deren produktiver Kraft, die zum Aufruf an alle von struktureller Diskriminierung (welcher Art auch immer) Betroffenen führt, nie mehr leise zu sein. Die diskriminierenden Strukturen (und ihre wirkmächtigen, destruktiven Mechanismen) zu erkennen, aufzudecken, zu benennen, anzuprangern und gemeinsam zu überwinden.
"Ich glaube weder an Aufstieg noch daran, dass alle alles erreichen können, und schon gar nicht, dass man sich Privilegien verdienen kann. Illusionen wie diese halten uns bloss davon ab, gesellschaftskritische Fragen zu stellen..." (S. 16)
Derart desillusioniert, ist auch von Anfang an klar, dass es sich bei Betiel Berhes Geschichte nicht um ein Einzelschicksal handelt, sondern dass ihre Geschichte über sie hinausweist, strukturelle Diskriminierung aufdeckt und damit anprangert. Das wird in "Nie mehr leise" besonders deutlich am Zusammenwirken von Rassismus und Kapitalismus, wo migrantische Menschen mithilfe rassistischer Narrative und Strukturen kapitalistisch ausgebeutet werden. Der Kapitalismus zudem Rassismus, um sich selbst zu erhalten bzw. das Machtgefälle sogar immer grösser werden zu lassen. Um diese doppelte Hürde von Klassismus und Rassismus zu überwinden, bleibt einem Kind...
"nur eine Möglichkeit: durch vollständige Assimilation zu einem "guten Ausländer*innenkind" zu werden." (S. 31)
Im Zuge dessen thematisiert die Autorin insbesondere das dreigliedrige Schulsystem Deutschlands (genauso sieht es in der Schweiz aus), das durch frühe Selektion zur Aufrechterhaltung einer Dreiklassengesellschaft aus Arbeiter*innenklasse, Mittelschicht und Oberschicht führt. Von eben diesen privilegierten Schichten scheint es auch mit aller Macht aufrechterhalten zu werden. Und das fängt schon in Kindertagesstätten bzw. bei der Erziehung zuhause an! Nicht besser sieht es auf dem Wohnungsmarkt aus, wo die Wohnungsnot in Kombination mit Rassismus die soziale Segregation noch befeuert.
Betiel Berhe kritisiert auch überzeugend globale und nationale "Hilfsprojekte" von weissen Menschen, die europäische Asyl- und Migrationspolitik oder das Racial Profiling der Polizei. Sie thematisiert die Problematik unbezahlter (und nicht wertgeschätzter) Carearbeit sowie das Diversity Washing von möchte-gern-fortschrittlichen Unternehmen, die denken, bei einem Trend mitmachen zu müssen:
"Aber wir sind kein Trend, und wir werden auch nicht wieder verschwinden. Im Gegenteil: Wir werden immer mehr." (S. 78)
Als weisse Frau mit Hochschulabschluss, Mitglied der Grünen und Elektrofahrrad mit Kinderanhänger fühle ich mich am einen oder anderen Ort ertappt, aber im besten Sinne. Denn die Analysen von Betiel Berhe sind genauso treffsicher wie entlarvend, zeigen sie doch auf, wo die Privilegien sich verstecken und wo wir (unbewusst) einen Distinktionsgewinn daraus ziehen und somit tradierte Mechanismen der Abwertung und Ausgrenzung aufrechterhalten. Und das selbst, wenn wir uns für offene, rassismuskritische Menschen halten, die sich eine inklusive und nachhaltige Gesellschaft wünschen.
Die Lösung der aufgezeigten Problematiken, gerade an der Schnittstelle von Rassismus und Klassismus, wird nicht einfach sein und so ist klar, dass die Autorin keine pfannenfertige Lösung präsentieren kann. Aber sie lädt dazu ein und empowert (insbesondere marginalisierte) Personen, in den Diskurs zu treten:
"Wenn man so will, müssen wir also Demokratie neu denken lernen. Es darf keinen Platz mehr geben für Konzepte wie Integration oder Leitkultur, denn sie lassen keinen Raum für real existierende Differenzen und Unterschiedlichkeiten. Sie greifen nicht, weil sie nicht dafür gedacht sind, Komplexität und Pluralität anzuerkennen." (S. 121)
Von Macht und Wut zur Revolution
Die migrantische Arbeiter*innen- und Mittelschicht und ihre Allies (sogenannte "Süsskartoffeln") können glücklicherweise auf das jahrelange Sammeln, Aufbereiten und Verbreiten von rassismuskritischem Wissen durch die BIPoC-Community bauen. Ein wichtiges Ausrufezeichen und ein Katalysator für weiteres Engagement in diese Richtung ist natürlich die Black Lives Matter-Bewegung. Ansätze wie Social Justice und Radical Diversity müssen handlungsleitend sein. Diesbezüglich verweist Betiel Berhe unter anderem auf die Arbeiten von Leah Czollek und Gudrun Perko, die ich mir unbedingt als nächstes vornehmen muss.
"Echte Solidarität würde also bedeuten, dass wir für alle Menschen - uns selbst eingeschlossen - ausnahmslos eine andere Gesellschaft einfordern." (S. 125)
Klar ist auf jeden Fall, dass wir den Weg aus einem Kapitalismus finden müssen, der sich Rassismus, Klassismus und Sexismus (und weitere Diskriminierungsformen) zunutze macht, um tradierte, sehr ungleiche Machtstrukturen und damit Privilegien zu erhalten.
Fazit
Ich kann hier all die Gedankengänge, konkreten Beispiele und Gedankengänge von Betiel Berhe nicht im Ansatz wiedergeben, aber das muss ich auch nicht, denn ihr sollt "Nie mehr leise" ja selber lesen. Ob nun BIPoC oder Süsskartoffel, die Lektüre lohnt sich auf jeden Fall, gibt wichtige Einsichten, rüttelt auf und macht auch Mut, dass eine neue Gesellschaft möglich ist!
Die Fakten
Betiel Berhe
Aufbau Verlag
204 Seiten
Erschienen am 14.03.2023
Hardcover
ISBN: 978-3-351-04203-5
PS: Herzlichen Dank an den Aufbau Verlag für das Rezensionsexemplar (als E-Book).
PPS: Seitenzahlen beziehen sich auf die E-Book-Version.
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Sachbücher, Berichte und Essays
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Romane
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