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Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne

(Werbung) Wenn Saša Stanišić ein neues Buch veröffentlicht, egal ob für Erwachsene oder Kinder, muss ich es lesen. Und so viel kann ich verraten: Das hat sich im Fall seines neuen Erzählbands "Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne" wieder einmal sehr gelohnt!


Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne -Saša Stanišić (Luchterhand 2024

Klar, der Name Saša Stanišić schraubt die Erwartungen nach oben. Wenn das neue Buch dann auch noch den wohl längsten Titel des Bücherjahrs hat, muss der Autor einfach abliefern. Meiner Meinung nach gelingt das Saša Stanišić mit Bravour. Und wie in seinem als Roman deklarierten Buch "Herkunft" (s. Besprechung) haben wir es auch hier mit Erzählungen zu tun, die sich zu einer Art Roman zusammenfügen.


Aber das Label ist eigentlich einerlei - das Wichtige sind Saša Stanišićs Ton, seine Ideen und seine Sprache, die uns durch die lose verbundenen Geschichten tragen. Er ist ganz nah an ganz "normalen" Menschen, die auch so denken und sprechen. In den zwölf Erzählungen lassen uns unterschiedliche Protagonist*innen - darunter auch Ich-Erzähler Saša - an ihrem Leben teilhaben. Erzählen von Vergangenem, Gegenwärtigem und verschiedenen möglichen Zukünften.


Am Anfang sitzen ein paar Jugendliche (darunter der Autor selbst) oberhalb des sommerheissen Heidelberger Weinbergs und lauschen Fatihs Idee eines "Proberaums für das Leben". Für 130.- DM - ja, es waren die 90er-Jahre - kann man im Proberaum 10 Minuten in der Zukunft verbringen. Wenn's einem gefällt, kann man die Zukunft für schlappe 130'000.- DM kurzerhand einloggen.


"Wir fanden, dass die Idee des Proberaums die mit Abstand beste Idee war, die Fatih jemals gehabt hatte, also seit er Embryo war und womöglich, je nach Religion, auch schon davor." / S. 12

Rund um diese Idee und richtungsweisende Entscheidungen der Protagonist*innen kreisen dann auch die weiteren Geschichten, die mal aus Sicht einer migrantischen Putzfrau mittleren Alters (Fatihs Mutter Dilek), mal aus Sicht vom Pokémon-Go-Anhänger und Memory-Hasser Georg Horvath, mal aus Sicht des Autors selber und weiteren Personen geschildert werden.

"Sein Haar war vorne kurz und hinten lang. Das sah irgendwie aus, als hätte das Haar etwas zu Hause vergessen und käme beim besten Willen nicht drauf, was es war." / S. 139

Saša Stanišić bringt einen mit seinen liebevoll verschrobenen Personen regelmässig zum Lachen und spricht gleichzeitig zahlreiche universelle Lebensthemen an: Von schwerwiegenden Müllsortierungsproblemen, Memory-Meistern im Kindesalter und Fehden mit jugendlichen Pokémon-Spielern, über imaginierte Ferien auf Helgoland und in Parallelwelten geklaute Schilder, bis hin zu noch schwerer wiegenden Entscheidungen zur Auswanderung und echten Panzern ist alles dabei. Klingt skurril? Ist es oft auch und sprüht dazu vor Sprachwitz, absurden Ideen und Zusammenhängen. Besonders in den Kapiteln aus der Perspektive des Autors spielt dieser mit seiner Rolle als Autor und Erzähler in Personalunion, wodurch sich die Erzählung in der Erzählung, in der Erzählung verfängt und die Idee der Paralleluniversen praktisch ins Unendliche getrieben wird. Ein wahres Erzählfeuerwerk!


"Diese Geschichte beginnt im Inselkrug, Helgolands ältestem Lokal. Im ersten Absatz betrete ich das Lokal und sage: «Guten Tag, ein Bier bitte.»" / S. 97

Saša Stanišić zeigt zwar Freude am Absurden und gleichzeitig am Banalen, aber seine Erzählungen sind deshalb alles andere als oberflächlich. Denn eigentlich spricht er damit elementare Themen an: Etwa, welche Zukunft wir uns wünschen, welche Zukünfte uns je nach Lebenssituation (z. B. Herkunft oder Klasse) offenstehen und wie wir diese mit unseren Entscheidungen beeinflussen - oder auch nicht.


"Einige Augenblicke unseres Lebens verpuppten sich, schon waren sie Vergangenheit." / S. 153

Natürlich taucht irgendwann auch die titelgebende Witwe auf und zwar in Form von Gisela, genannt Gisel, deren Mann Hermann vor vier Jahren verstorben ist und die so langsam wieder bereit wäre für eine neue romantische Bekanntschaft.


"Was musste man noch in dem Alter müssen? Medikamente nehmen und dreissig Mal kauen, um nicht an irgendetwas zu ersticken, am schlimmsten fände sie Brokkoli." / S. 191

Die Geschichten kommen - ähnlich wie bei "Herkunft" - nicht nur durch gewisse Schnittstellen zwischen den Protagonist*innen und ihrem jeweiligen Leben, sondern am Ende auch durch Zeitreisen der Protagonist*innen. Viel mehr möchte ich hier aber nicht verraten, um euch nicht den Spass am Selberlesen zu verderben. Es lohnt sich sehr!


Fazit

Der Erzählband "Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne" von Saša Stanišić ist etwas für alle, die gerne unterhaltsame Geschichten mit Tiefgang und Sprachspielereien mögen. Das Buch feiert die scheinbar kleinen Ereignisse im Leben, skurrile Spleens, liebenswerte Sonderlinge, wahre Freundschaften und grosse Träume. Ein Buch, das so vielschichtig - und dabei so witzig - ist, dass man es sicher mit Gewinn mehrmals lesen kann.



Die Fakten

Saša Stanišić

Luchterhand (Penguin Randomhouse)

256 Seiten

Erschienen am 30.05.2024

Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen

ISBN: 978-3-630-87768-6




PS: Herzlichen Dank an den Luchterhand Verlag für das Rezensionsexemplar. Dieser Artikel und das Reel zum Buch mit der "Titel-Aufsag-Challenge" entstanden in Zusammenarbeit mit Nonstop Creating.



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