Graphic Novels zum Holocaust
Zum heutigen Tag des Internationalen Tags des Gedenkens an die Opfer des Holocaust und dem 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz-Birkenau möchte ich euch eine Serie von Graphic Novels vorstellen, die sich dem Thema aus unterschiedlicher Perspektive annehmen. Es sind Bücher gegen das Vergessen. Aber wir dürfen es nicht beim Erinnern belassen!
Den Anfang der "Graphic-Novel-Tradition" rund um den Holocaust, seine Überlebenden und Opfer, machte 1986 Art Spiegelman mit seiner zweibändigen Graphic Novel Maus. Ich habe das englische Original letztes Jahr endlich gelesen und nehme es deshalb hier in die Sammlung auf. Die weiteren Empfehlungen sind aktuelleren Datums.
Maus. Die Geschichte eines Überlebenden - Art Spiegelman
Maus erzählt die Geschichte von Art Spiegelmans Vater Wladek Spiegelman, der als polnischer Jude von den Nationalsozialisten verfolgt und schliesslich deportiert wurde, das Lager aber überlebte und nach New York emigrierte. Der zweite Band nimmt sich dann auch dem weiteren Leben Spiegelmans in den USA an. Das besondere an dieser Graphic Novel ist einerseits, dass Menschen als Tiere dargestellt werden: Juden und Jüdinnen sind Mäuse, die Deutschen sind Katzen, die Franzosen Frösche etc.
Zudem verklärt Art seinen Vater nicht und räumt so mit dem Vorurteil auf, dass Jüdinnen und Juden, die den Holocaust überlebt haben, durchgehend gute, verständnisvolle, geduldige Menschen sein müssten, die jetzt in Freiheit einfach nur glücklich und dankbar sein sollten. In dieser Graphic Novel sieht man, was ein solches Trauma eben auch bedeutet: Es hinterlässt Wunden, die nie heilen werden. Es ist ein Leben mit dem "Fluch des Überlebens", während andere gestorben sind. Das macht deutlich: Den Überlebenden sollte man jede Art des Umgangs damit zugestehen.
Maus. Die Geschichte eines Überlebenden - Art Spiegelman, Übersetzung: Christine Brinck, Josef Joffe, S. Fischer, erschienen am 28.11.2023 (erstmals 1989), 300 Seiten, Hardcover (im Schuber), ISBN: 978-3-10-397535-2
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Zeit heilt keine Wunden - Hannah Brinkmann
Hannah Brinkmann zeichnet in ihrern Graphic Novel das Leben von Ernst Grube nach. Er wurde als Sohn einer jüdischen Mutter und eines nicht-jüdischen Vaters geboren und unter den Nazis verfolgt. Dank seinem "arischen" Vater wurden er, seine Mutter und Geschwister "erst" 1945 nach Theresienstadt deportiert und überlebten bis zur Befreiung durch die Rote Armee. Im Nachkriegsdeutschland sucht Ernst Halt bei der FDJ und engagiert sich in der Kommunistischen Partei (KPD), die bald verboten und verfolgt wird.
Und hier kommt der zweite Erzählstrang dieser Graphic Novel ins Spiel: Hannah Brinkmann erzählt das Leben Ernst Grubes im Wechsel mit demjenigen von Kurt Weber. Dieser hatte zur Zeit der Machtergreifung eine jüdische Freundin, Kabarettistin Alice Droller. Er wollte sie nicht ins Ausland begleiten, sondern seine Karriere als Jurist weiterverfolgen. So brachte er es bis zum Ersten Staatsanwalt unter den Nazis und amtete auch in der BRD als Richter. Und in dieser Rolle begegnet er Ernst Grube.
Hier geht es also auch um die mangelnde Entnazifizierung Deutschlands, die übertriebene Verfolgung linken Engagements (z.B. gegen die Remilitarisierung Deutschlands) und das Weiterbestehen nazifizierter Strukturen in der Nachkriegszeit.
Den Kontrast der beiden Leben zeigt Hannah Brinkmann auch durch die unterschiedliche Gestaltung der jeweiligen Erzählstränge aufzeigt, hat mich besonders begeistert. Überhaupt ist diese Graphic Novel gestalterisch mein Favorit (dicht gefolgt von Emmie Arbel, siehe unten).
Zeit heilt keine Wunden - Hannah Brinkmann, avant, erschienen am 21.11.2024, 272 Seiten, Hardcover, ISBN: 978-3-96445-121-7
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Adieu Birkenau. Eine Überlebende erzählt - Ginette Kolinka, Victor Matet, Jean-David Morvan, Ricard Efa, Roger Surroca und Cesc
Victor Matet und Jean-David Morvan haben die Überlebende Ginette Kolinka aus Frankreich ins Konzentrationslager nach Polen begleitet und mit den drei Zeichnern Ricard Efa, Cesc und Roger Surroca eine Graphic Novel gestaltet. Ginette Kolinka wuchs mit ihren Geschwistern in Paris auf. Als die französische Hauptstadt zur besetzten Zone und damit das Leben der jüdischen Familie immer schwerer und gefährlicher wurde, mussten sie fliehen. Ginette und ihre beiden Schwestern wurden dabei sogar noch von der Gestapo aufgegriffen und über Nacht ins Gefängnis gesteckt, aber dann laufen gelassen. So stiessen sie zum Rest ihrer Familie in Südfrankreich. In Avignon bauten sie sich ein neues Leben auf. Doch auch dieses war mit dem Vorrücken der Nationalsozialisten und der Kooperation des französischen Regimes schnell wieder in Gefahr. Und so kamen Ginette, ihr Vater und ihr Bruder über Drancy mit Transport Nr. 71 nach Auschwitz-Birkenau. Heimkehren sollte nur Ginette, zusammen mit Simone Veil, der späteren französischen Ministerin und bedeutenden feministischen Aktivistin.
Die Graphic Novel bettet Ginette Kolinkas Erlebnisse ein in einen Besuch des Konzentrationslagers Auschwitz mit einer Schulklasse. So erfahren wir auch, wie Ginette mit dem Erlebten umgeht und wie sie - nach 50 Jahren des Schweigens - versucht, die Erinnerung an jüngere Generationen weiterzugeben, um so ihren Teil dazu beizutragen, dass sich die Geschichte des Holocausts nicht wiederholt.
Im Anschluss an Ginettes Biographie folgt ein sehr spannendes Dossier von Tal Bruttmann über Frankreich unter dem NS-Regime, das besonders für die Behandlung in der Schule wertvoll ist und viel Hintergrundinformationen liefert.
Adieu Birkenau. Eine Überlebende erzählt - Ginette Kolinka, Victor Matet, Jean-David Morvan, Ricard Efa, Roger Surroca und Cesc, Übersetzung: Harald Sachse, Splitter, erschienen am 21.11.2024, 112 Seiten, Hardcover, ISBN: 978-3-98721-394-6
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Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung - Barbara Yelin, Emmie Arbel
Barbara Yelin erzählt sehr feinfühlig die Geschichte der niederländischen Shoa-Überlebenden Emmie Arbel, die sie dafür zahlreiche Male in Israel, aber auch in Deutschland traf. Die Graphic Novel fokussiert vor allem auf das Leben von Emmie nach der Deportation ins KZ Ravensbrück. Wie sie als überlebendes Kind zuerst in eine jüdische Pflegefamilie in Schweden kam, mit ihr nach Israel emigrierte, sich irgendwann freikämpfte, eine eigene Familie gründete. Erst mit einem Zusammenbruch begann sie, das Erlebte im Lager, aber auch den sexuellen Missbrauch durch ihren Pflegevater aufzuarbeiten und mit ihren Töchtern darüber zu sprechen.
Barbara Yelins Graphic Novel ist ein wundervoll atmosphärisches, mit Aquarelltechnik gestaltetes Porträt einer Überlebenden und damit ein Beitrag zum Erinnern, aber auch eine Geschichte der Selbstermächtigung und des Überwindens (oder zumindest Aufarbeitens) von Trauma. Das Besondere ist, dass Barbara Yelin sich selbst nicht ausklammert, sondern ihr Dabeisein bei Emmies Prozess des Erinnerns und Erzählens mit abbildet. Dabei kommt sie auch auf dem Umgang der Menschen in Israel mit dem Holocaust zu sprechen - da war lange ein grosses Schweigen, ja sogar Vorwürfe an die Jüdinnen und Juden in Europa, dass sie sowas mit sich machen liessen. Wie soll da ein Mensch - noch dazu ein Kind! - verarbeiten, was er bzw. sie als erlebt hat?!
Die Graphic-Novel gibt es in einer kürzeren Version auch als Teil der Anthologie "Aber ich lebe - Vier Kinder überleben den Holocaust"* (C.H.Beck Verlag 2022). 2024 war "Emmie Arbel" nominiert für den Deutschen Kinder- und Jugendliteraturpreis in der Kategorie Sachbuch.
Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung - Barbara Yelin, Emmie Arbel, Reprodukt, erschienen am 06.11.2023, 189 Seiten, Hardcover, ISBN: 978-3-95640-396-5, ab 16 Jahren
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Bald sind wir wieder zu Hause - Jessica Bab Bonde, Peter Bergting
Diese Graphic Novel Anthologie versammelt die Zeugnisse von sechs Menschen, die als Kinder oder Jugendliche in Konzentrationslager deportiert wurden und überlebt haben. Wie tausende andere Kinder wurden Tobias, Livia, Selma, Susanna, Emmerich und Elisabeth nach der Befreiung 1945 vom Roten Kreuz nach Schweden gebracht, um sich von den Strapazen zu erholen.
Die Geschichten werden aus Kinderperspektive erzählt und sind so besonders zugänglich für heutige Jugendliche und die Erinnungsarbeit in Schulen. Auch die Darstellung ist von den hier versammelten Graphic Novels am wenigsten drastisch und explizit, ohne zu beschönigen. Leicht verständliche Textschnipsel, erklärende Fussnoten, eine Zeittafel sowie ein Glossar vermitteln den Kindern wichtige Hintergrundinformationen, um das Gelesene verstehen und einordnen zu können.
Bald sind wir wieder zu Hause - Jessica Bab Bonde, Peter Bergting, Übersetzung: Monja Reichert, Cross Cult, erschienen am 17.06.2020, 95 Seiten, Hardcover, ISBN: 978-3-96658-178-3, ab ca. 10 Jahren
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Die Geschichte von Francine R. - Widerstand und Deportation - Boris Golzio
Wenn wir über den Holocaust sprechen, lohnt es sich auch, über Widerstand zu sprechen. Diesen gab es viel zu selten, aber es gab ihn. Ein Beispiel ist Francine R., die sich - wie ihr Bruder und ihre Schwester - der französischen Résistance (auch "Maquis" genannt) angeschlossen hatte. Die Graphic Novel ist die Verschriftlichung und Illustration eines mündlichen Berichts dieser Zeitzeugin. Entsprechend transportiert die Graphic Novel auch Francines Gedächtnis- oder Wissenslücken, da Boris Golzio den Bericht möglichst authentisch und ungeschönt (auch unverbessert) weitergeben wollte.
Francine und ihre Schwester Marie-Louise schmuggelten für den Maquis zum Beispiel Waffen oder warnten ihre Kolleg*innen im Widerstand, wenn die "Boches", also die Deutschen, im Anmarsch waren. Im Mai 1944 wurden sie allerdings von der Gestapo verhaftet und ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Dort und in Reichswerken, die Munition herstellten, mussten sie Zwangsarbeit ausführen. Francine gab auch in Gefangenschaft den Widerstand nicht auf und manipulierte die Maschinen, mit denen sie Munition, Granaten und Bomben herstellte. Das kostete sie fast ihr Leben, doch sie überlebte und wurde vom dänischen und schwedischen Roten Kreuz befreit. Im Juli 1945 kehrte sie nach Frankreich zurück. Sie wog gerade noch 33 Kilo und war erst 22 Jahre alt.
Die Geschichte von Francine R. - Widerstand und Deportation - Boris Golzio, Übersetzung: Carsten Hinz, Katja Fröhlich und Barbara Hahn, Avant, Erschienen am 01.03.2021, 136 Seiten, Hardcover, ISBN: 978-3-96445-047-0
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Nekropolis - Boris Pahor, Jurij Devetak
Diese Graphic Novel ist die illustrierte Umsetzung des gleichnamigen Berichts "Nekropolis"* von Boris Pahor. Mit seinen schwarzweissen, kontrastreichen, reduzierten Bildern zeichnet Jurij Devetak den Besuch von Boris Pahor im Lager Natzweiler nach. Jahre nach seiner Befreiung kommt der slowenische Widerstandskämpfer aus Triest an den im Wald versteckten Ort des Grauens zurück, spürt die Anwesenheit der Geister der Verstorbenen, setzt sich sowohl mit dem damaligen Schrecken als auch mit seiner "Schuld" als Überlebender auseinander.
Wie bei anderen Graphic-Novel-Adaptionen von Romanen kommt mir "Nekropolis" etwas zu spartanisch daher, lässt viele Leerstellen. Hier lohnt sich bestimmt auch die Lektüre des literarischen Originals. Die Bilder sind hingegen sehr einprägsam und mögen an das Filmschaffen von Hitchcock erinnern.
Eindrücklich ist, dass Boris Pahor, der 2022 mit 2022 mit 108 Jahren starb, noch an der Graphic Novel mitarbeitete und die Umsetzung absegnete.
Nekropolis - Boris Pahor, Jurij Devetak, Übersetzung: Barbara Anderlič, Schaltzeit Verlag, erschienen am 25.09.2023, 172 Seiten, Hardcover, ISBN: 978-3-946972-73-0
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Zum Abschluss noch ein Hinweis auf die Bundeszentrale für Politische Bildung, die umfassend über Themen wie Krieg, Nationalsozialismus und Holocaust informiert.
Weitere Bücher auf mint & malve rund um den Holocaust und jüdisches Leben
Geordnete Verhältnisse - Lana Lux (Hanser Berlin 2024)
Gewässer im Ziplock - Dana Vowinckel (Suhrkamp nova 2023)
Birobidschan - Tomer Dotan-Dreyfus (Voland & Quist 2023)
Fenster in der Nacht - Geschichten der Hoffnung - Neil Shusterman, Andrés Vera Martínez (Loewe Graphix 2024)
Nicky und Vera Ein stiller Held des Holocaust und die Kinder, die er rettete
Peter Sís (Gerstenberg 2022)
Über die Grenze - Maja Lunde, Regina Kehn (Urachhaus 2021)
Zwei von jedem - Rose Lagercrantz, Rebecka Lagercrantz (Moritz Verlag 2021)
Und doch sind alle Äpfel rund... - Christine Hubka, Agi Ofner (Tyrolia Verlag 2021)
Hannah Arendt. Little People, Big Dreams - María Isabel Sánchez Vegara, Sophie Martineck (Insel Verlag 2020)
Wem gehört der Schnee? Eine Ringparabel - Antonie Schneider, Pei-Yu Chang (NordSüd Verlag 2019)
Anne Frank. Kleine Bibliothek grosser Persönlichkeiten - Isabel Thomas, Paola Escobar (Laurence King 2019)
Anne Frank. Little People, Big Dreams - María Isabel Sánchez Vegara, Sveta Dorosheva (Insel Verlag 2019)
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