Drifter
Mit "Drifter" von Ulrike Sterblich stelle ich euch wohl das ungewöhnlichste Buch von der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023 vor. Ich hab's auf jeden Fall geliebt.
Wenn ihr Lust auf ein humorvolles Buch von der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2023 habt, kann ich euch neben meinem Patenbuch "Kochen im falschen Jahrhundert" von Teresa Präauer nun auch "Drifter" von Ulrike Sterblich wärmstens empfehlen.
Ulrike Sterblich erzählt eine Geschichte, die schwerlich nachzuerzählen ist, so absurd ist sie, so viele mehr oder weniger glaubwürdige Wendungen nimmt sie und so viel skurriles Personal - tierisches und menschliches - fährt sie auf. Ich habe mich köstlich amüsiert, habe die popkulturellen Referenzen aufgesogen und die tiefgründigeren Metaebenen nebenbei mitgenommen. Bestimmt gäbe eine zweite oder dritte Lektüre oder die Diskussion in einem Lesekreis noch viel mehr Lesarten, viel mehr Schichten dieses irrwitzgen Romans frei.
Ein Gang zur Pferderennbahn verändert alles
Aber worum geht es denn nun? Wagen wir einen Versuch der Inhaltsbeschreibung, ohne zu viel zu verraten und euch den ganzen Lesespass zu nehmen: Ich-Erzähler ist Wenzel Zahn, irgendwo zwischen 30 und 40. Er arbeitet beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk und ist dort zuständig fürs Community-Management, sprich: die Kommentarspalten. Ihr könnt euch vorstellen, was er da täglich zu Gesicht bekommt. Da braucht man schon so seine Coping-Strategien. Dieser Wenzel fährt nun mit seinem besten Freund Killer (eigentlich Marco Killmann) auf die Pferderennbahn. Eine schicksalhafte Unternehmung, denn nicht nur sieht Wenzel unterwegs eine Frau im goldenen Kleid mit dem neuen, noch nicht erschienenen Roman von Kultautor K:B Drifter, nach dem Pferderennen zieht auch noch ein Gewitter auf und Killer wird vom Blitz getroffen.
Er überlebt zwar ohne grössere Blessuren, ist aber ziemlich verändert. Er kündigt seinen lukrativen Job als PR-Chef und zieht zurück in das Mietshaus am Stadtrand, in dem die beiden Freunde ihre Kindheit gemeinsam verbracht haben und wo Killers Mutter immer noch lebt. Scheinbar zufällig trifft Wenzel die Frau aus der Bahn wieder. Es stellt sich heraus, dass es sich um Vica handelt, eine bekannte Influencerin von LosVideos. Durch Wenzels Vermittlung bezieht sie mit ihrer dubiosen Firma mehrere Wohnungen in besagtem Wohnblock am Stadtrand.
"Ich stellte mir noch einmal all die Fragen, die nur Vica beantworten konnte, also, woher kam der unveröffentlichte Drifter, was sollte das mit dem in die Luft gemalten Blitz, woher kannte sie meinen Namen, und hatte sie mich gesehen in der Straßenbahn, oder woher wusste sie, wo ich wohnte? Ich griff nach meinem Smarti und spielte zwei Runden FreeCell." (S. 36)
Alles scheint hier mit allem verbunden zu sein, Vica weiss zudem verdächtig viel über Wenzel und Killer und zieht ihr Netz durch alle Lebensbereiche der beiden. Es geschehen fantastische Dinge, unmögliche Zufälle, es finden rauschende Partys statt, Wenzel begibt sich auf die Suche nach Drifter und seinem angeblich neuen Buch, das es doch nicht zu geben scheint, und alles wird immer surrealer. Und doch findet sich Wenzel in dieser neuen Welt mit seinem veränderten besten Freund irgendwie immer besser zurecht.
"So, dachte ich, jetzt ist es amtlich: Bei Killer hatte sich was verschoben. Es ist nicht so, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber er hat das Geschirr neu sortiert." (S. 56)
Ein literarisches Dickicht popkultureller Referenzen und unerwarteter Wendungen
Um "Drifter" zu mögen, muss man Spass an Skurrilem haben, an Wissenslücken, die sich auch im Verlauf des Romans nicht wirklich aufklären. Dem Buch von Ulrike Sterblich merkt man auf jeder Seite die pure Lust am Erzählen, die Freude an der Sprache und an einer Mannigfaltigkeit an Referenzen an. Alte (und junge) FreeCell-Gamer*innen - wie ich - werden spätestens ab Seite 24 Fan sein. Smartwatch-Träger*innen wird es vielleicht kurz etwas unheimlich. Anhänger*innen von Wolfgang Herrndorf (siehe meine Besprechungen von "Tschick" und "Bilder deiner grossen Liebe") und überhaupt popkultureller Literatur und alternativer Online-Foren wird das "Ministerium für ehrliche Propaganda" in Anlehnung an "Wir höflichen Paparazzi" den Ärmel reinziehen.
"Wie meistens, wenn ich mich zwischen zwei oder mehr Zuständen mental eingekeilt fühlte, spielte ich als Übersprungshandlung eine Runde FreeCell..." (S. 24)
"Drifter" ist nun aber nicht einfach ein witziger Roman, es werden durchaus tiefgründige Themen angesprochen. Sie werden zwar nicht eingehend diskutiert, aber die Leser*innen werden dazu angeregt, sich über Themen wie Social Media und Medien generell, Tracking und andere Datensammlungen, lebenslange Freundschaften, die Liebe, soziale Klasse und mehr Gedanken zu machen. Dass die Themen nicht zerredet werden, finde ich gerade das Gute an diesem Roman. Denn er ist an sich schon opulent genug und nur Ulrike Sterblichs Gabe, uns die an sich unglaubwürdige Handlung als total glaubhaft zu verkaufen und in wunderbare Sprache zu packen, treibt uns durch das Buch.
"Wäre es jetzt hier zu Ende gewesen, hätten wir uns jetzt verabschiedet, wäre es ein schöner, vielleicht sogar besonderer Abend mit neuen Bekanntschaften gewesen, aber ein isolierter Wert, der nicht in mein weiteres Leben hineinragte, in die dezidierten Merkwürdigkeiten, die mich überwucherten, als hätte ein wild gewordener Gärtner alles vollgepflanzt mit Lianen und Kletterpflanzen, mit Gewirr und Gewirk und Dickicht, in dem ich die Orientierung verlor inmitten blühender Opulenz." (S. 151)
Fazit
Ich könnte immer wieder in den genialen Bildern und den abstrusen Wendungen dieser Geschichte von Ulrike Sterblich versinken. "Drifter" macht einfach Spass und man entdeckt sicher bei jeder Lektüre, bei jedem Gespräch über das Buch wieder eine neue Facette. Ich freue mich sehr, dass ein solcher Roman es auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis geschafft hat. Ich gehe zwar davon aus, dass ein ernsteres Buch gewinnen wird, aber gönnen würde ich es Ulrike Sterblich sehr. Und jetzt muss ich ihr Memoir "Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt"* und ihren Debütroman "The German Girl"* unbedingt auch noch lesen!
Die Fakten
Ulrike Sterblich
Rowohlt
288 Seiten
Erschienen am 17.07.2023
Hardcover
ISBN: 978-3-498-00326-5
PS: Herzlichen Dank an den Deutschen Buchpreis und den Rowohlt Verlag für das digitale Rezensionsexemplar. Die Seitenangaben beziehen sich auf die E-Book-Variante und können von der Printversion abweichen.
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Kochen im falschen Jahrhundert - Teresa Präauer (Wallstein 2023)
Birobidschan - Tomer Dotan-Dreyfus (Voland & Quist 2023)
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