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Die zitternde Welt

Tanja Paar lässt in ihrem Roman "Die zitternde Welt" ein Familienschicksal auf die Weltgeschichte prallen. Im Fokus steht eine mutige, freiheitsliebende Frau.


Die zitternde Welt - Tanja Paar (Haymon 2020)

Diese Frau ist Maria. Sie reist hochschwanger ihrem Freund Wilhelm nach Anatolien hinterher. Wilhelm ist Ingenieur und hilft Ende des 19. Jahrhunderts im Osmanischen Reich beim Bau der Eisenbahn von Konstantinopel (heute Istanbul) nach Kayseri, später beim Bau der Bagdadbahn.


Ein selbstbestimmtes, freies Leben

Einige Jahre leben Maria und Wilhelm mit den Söhnen Hans und Erich im rauen, wilden Hinterland von Anatolien, fernab der Zivilisation. Aber als gutbegüterte Familie mit Bediensteten lässt es sich in Bünyan, unweit von Kayseri, ganz gut leben. Und so erfüllt sich auch Marias Kindheitstraum:


"Niemals kochen und nähen zu müssen, das war der Traum ihrer Kindheit. Ein sehr vager Traum. Sie hatte keine exakte Vorstellung von einem besseren Leben, sie kannte nichts anderes als den Alltag ihrer Handwerkerfamilie in bescheidenen Verhältnissen." (S. 34)

In Bünyan hat sie eine Amme, eine Köchin und einen Schneider. In ihrer Freizeit reitet sie aus - in legerer Kleidung. Sie unternimmt Spaziergänge mit ihrem Hund Cäsar. Die Familie ist gut ins örtliche Leben eingegliedert, hat viel Kontakt zu den Einheimischen. Die beiden Söhne sprechen fliessend Türkisch.


Verhängnisvolle Affäre

Damit Hans und Erich Französisch lernen, hat Wilhelm Frederic Bertrand engagiert. Maria darf auch von seinem Unterricht profitieren und schwärmt für den Franzosen. Wilhelm scheint dies nur recht zu sein. So ist seine Frau beschäftigt und zufrieden. Er fürchtet nämlich nichts mehr, als dass sich Maria langweilt und samt der Kinder verschwindet. Schnell beginnen Maria und Frederic eine heimliche Liaison.


In der Folge wird Maria nochmals schwanger und bringt Tochter Irmgard zur Welt. Für die Leser*innen ist ziemlich klar, dass Irmgard die Tochter von Frederic sein muss. Zwischen Maria und Wilhelm scheint das aber kein Thema zu sein. Vielmehr ist das dritte Kind Anlass genug, um nach Jahren doch noch den Bund der Ehe zu schliessen.


Der Erste Weltkrieg als Zäsur

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ändert sich für die österreichische Familie im fernen Belemedik, wo sie inzwischen leben, alles. Denn die gewalttätigen Konflikte machen keinen Halt vor dem Osmanischen Reich, wo sowohl die Franzosen als auch die Deutschen ihre Interessen haben. Wilhelm selbst erhält zwar keinen Marschbefehl, aber die beiden Söhne im wehrpflichtigen Alter sind in Gefahr. Und so ist die Familie gezwungen, weitreichende Entscheidungen mit ungewissem Ausgang zu treffen.


Tanja Paar erzählt durchgehend in der 3. Person. Während im ersten Teil des Buches Maria, ihr Handeln und Fühlen am stärksten im Fokus stehen, wechselt der Blickwinkel im zweiten Teil. Erst begleiten wir Hans in die Kriegswirren rund um Triest, dann treffen wir Erich wieder und erleben mit, wie es ihm nach dem Krieg ergeht. Für mich war dieser zweite Teil zwar dadurch interessant, dass Tanja Paar sich damit auseinandersetzt, wie der Krieg eine Familie und ihr Gefüge treffen kann, wie unterschiedlich die einzelnen Familien vom Krieg betroffen sein können und wie die Weltgeschichte quasi das ganze Leben durchwirkt. Wie die eigene Herkunft, die in diesem Fall nicht mit der gefühlsmässigen Heimat übereinstimmt, die Möglichkeiten des Lebens bestimmt. Erzählerisch fand ich aber den ersten Teil aus weiblicher Perspektive spannender und hätte mir im zweiten Teil eine Ergänzung oder Fortführung zur Perspektive von Irmgard gewünscht. Sie fristet aber im Roman nur ein Schattendasein.


Insgesamt entwickelt die Autorin einen guten Sog - vor allem im ersten Teil - und zeigt sehr gut, wie eng Weltgeschichte und persönliches Schicksal oft verbunden sind. Wie schwierig es ist, seine Herkunft hinter sich zu lassen und gesellschaftliche Konventionen zu sprengen. An einigen stellen war mir der Roman etwas zu konstruiert, gewisse Twists zu künstlich (und doch erwartbar). Aber insgesamt kann ich die Lektüre durchaus empfehlen.


Fazit

"Die zitternde Welt" von Tanja Paar ist das Portrait einer mutigen Frau und ihrer Familie, die um 1900 fernab der österreichischen Heimat ihr Glück sucht. Doch das Weltgeschehen, genauer: der Erste Weltkrieg, macht vor Landesgrenzen nicht Halt und holt die Familie ein. Ein Leseerlebnis mit viel Sog, einer starken, unabhängigen Frauenfigur und Einzelschicksalen, die exemplarisch für eine ganze Generation stehen können.


Die Fakten

Tanja Paar

Haymon Verlag

300 Seiten

Erschienen am 03.09.2020

Hardcover mit Lesebändchen

ISBN 978-3-7099-8112-2



PS: Herzlichen Dank an den Haymon Verlag für das Rezensionsexemplar.



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