Die Entflammten
Wie so oft steht auch hinter dem Erfolg von Vincent van Gogh eine Frau. In diesem Fall besser: eine Schwägerin. Simone Meier erzählt in ihrem fiktionalisierten Porträt "Die Entflammten" die Geschichte von Johanna van Gogh-Bonger und schafft damit selbst ein literarisches Kunstwerk.
Simone Meiers Kolumnen und Artikel habe ich schon als Jugendliche geliebt. Deshalb wurde es höchste Zeit, endlich auch einmal eins ihrer literarischen Werke zu entdecken. Ihr Gespräch auf Instagram mit Maria Christina Piwowarski hat mich dann definitiv überzeugt. Wenn die Autorin so Feuer und Flamme ist für ihre Protagonistin, muss der Roman einfach gut sein!
Und das kann ich vorwegnehmen: "Die Entflammten" hat mir ausgezeichnet gefallen. Und dabei ist es wahrscheinlich vollkommen egal, ob man mit dem Künstler Vincent van Gogh etwas anfangen kann oder nicht. Denn um ihn geht es hier nur am Rande. Denn dieses Buch ist...
"Die Geschichte von Jo. Von einer Frau aus einem anderen Jahrhundert. Einer Frau, die eine kurze Liebe mit gewaltigen Folgen erlebt und einen Mann zum Genie gemacht hatte." / S. 9
So fasst es Erzählerin Gina zusammen, die Kunstgeschichte studiert und nebenbei auf Jo, Johanna Bonger, trifft. Sie verliebt sich derart in diese Persönlichkeit, dass sie nicht anders kann, als ihrer Geschichte auf den Grund zu gehen, sie zum Leben zu erwecken, sie uns zu erzählen.
Die Geschichte setzt ein, als Jo noch in Holland lebt und unglücklich in Eduard verliebt ist. Ihr Bruder Dries, der in Paris lebt, macht sie mit Theo van Gogh, dem Bruder von Vincent, bekannt. Er hat das Gefühl, dieser feinsinnige Mann, ein Kunsthändler, wäre genau der richtige für seine Schwester. Theo verliebt sich sofort in Jo, doch sie zeigt lange kein Interesse, ist völlig auf Eduard fixiert. Nach zwei Jahren ohne tieferen Kontakt reist Theo nach Amsterdam und hält um Johannas Hand an.
"Sie sagt Nein. Doch vor lauter Verblüffung vergisst sie, ihm seine Liebe zu verbieten, und erlaubt ihm, ihr zu schreiben. Er wird damit am nächsten Tag beginnen. Er wird sich siebzehn Monate lang die Seele aus dem Leib schreiben, um Jo zu gewinnen." / S. 25
Aus Ginas Perspektive, Erzählerin und fiktive Schreiberin des Romans, erfahren wir mehr über Johanna, ihre Beziehung zu Theo und zu seinem Bruder Vincent. Wir verlieben uns mit ihr, lernen ihre Geschwister kennen, ihre Bezugspersonen und ihr Leben in Paris. Dieses ist weniger mondän als von Theo und ihr erhofft und nicht nur überschattet von Vincents schlechter mentaler Verfassung und schliesslich seinem Suizid. Nein, kurz nach der Geburt des kleinen Sohnes, dem kleinen Vincent, wird Johanna auch klar, dass Theo an Syphilis leidet. Die Krankheit rafft ihn schnell dahin und dann steht Johanna alleine da mit einem Sohn und zahlreichen Bildern von Vincent van Gogh, die bis dahin allerdings weder bekannt noch wertvoll waren.
Viel mehr möchte ich über den Plot nicht verraten, damit ihr ihn mit Johanna und Gina selbst erleben könnt. Die Geschichte von Johanna ist durchzogen von Ginas eigener Geschichte als Tochter eines Schriftstellers, der es gerade mal zu einem einzigen Roman gebracht hat und dann nach Italien geflüchtet ist. Gina kommt Johanna immer näher, spricht mit ihr, irgendwann taucht sogar ihr Geist auf. Da mich vor allem Johannas Geschichte interessiert hat, waren mir die Exkurse in Ginas Leben und Familiengeschichte manchmal etwas zu ausschweifend. Andererseits eignet sich die Erzählweise auch gut, um Johanna eine Stimme zu geben, sie wieder lebendig zu machen und das nicht nur als "starke Frau von", sondern als eigene Persönlichkeit.
Gerne genauer gewusst hätte ich, wie Johanna das Werk von Vincent van Gogh so bekannt gemacht hat. Das wird im Prinzip schon erzählt, aber es gibt nicht viele Szenen dazu, in denen wir Johanna auf ihren Reisen, zu Galerien, in Museen oder vielleicht auch bei einem Verkauf einzelner Bilder oder zu einer Versteigerung begleiten. Ein paar Zahlen wären auch spannend gewesen. Aber das hätte vielleicht auch zu sehr von Jo abgelenkt, um die es hier ja geht und die mir nach der Lektüre als bewundernswerte, unabhängige, selbstbewusste Persönlichkeit deutlich vor Augen steht. Wie sie sich im 19. Jahrhundert und anfangs 20. Jahrhundert als alleinstehende Frau behauptet hat und so erfolgreich ihr Erbe genutzt, ja, im Wert um ein Vielfaches gesteigert hat, ist äusserst eindrücklich.
Die Schweizer Autorin erzählt emotional, witzig, auch mal derb und ohne Umschweife, von grosser Liebe, Tod, vom harten und vorgezeichneten Leben von Frauen im 19. Jahrhundert, vom Eiffelturm, der sich gerade im Bau befand, von eiternden Wunden und Frauen und jungen Mädchen, die reihenweise als Musen ausgenutzt und missbraucht wurden.
Fazit
Mit "Die Entflammten" erzählt Simone Meier von einer kurzen, intensiven Liebesgeschichte - zwischen Theo van Gogh und Johanna Bonger. Und sie zeichnet nach, wie Johanna aus der Asche ihrer kurzen Liebe aufsteht. Wie sie aus dem, was ihr bleibt, nämlich den Bildern von ihrem toten Schwager Vincent van Gogh, erst das künstlerische Vermächtnis von Weltruhm macht, das wir heute alle kennen - von den Bildern, aber auch von Postkarten, Radiergummis, Postern, Kochschürzen, Bleistiften, T-Shirts und 1'000 weiteren van-Gogh-Merchandise-Produkten. Ein sehr lohnens- und lesenswerter Blick hinter die sonnengeblümte Leinwand!
Die Fakten
Simone Meier
Kein & Aber
272 Seiten
Erschienen am 29.02.2024
Hardcover
ISBN: 978-3-0369-5029-7
PS: Herzlichen Dank an NetGalley und den Kein & Aber Verlag für das digitale Rezensionsexemplar. Die Seitenzahlen beziehen sich auf die elektronische Variante und können deshalb von der Printversion abweichen.
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