Der junge Mann
Habt ihr schon etwas von Nobelpreisträgerin Annie Ernaux gelesen? Ihr Text "Der junge Mann" ist frisch auf Deutsch erschienen. Zeit, sich der preisgekrönten Autorin auch hier auf dem Blog einmal anzunehmen.
Ich habe von Annie Ernaux, der französischen Autorin, die 2022 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, erst "Erinnerung eines Mädchens"* gelesen. Gefallen haben mir daran die soziologische Perspektive und der feministische Impetus. Mit der Ich-Erzählerin, also der Autorin selbst, wurde ich aber nicht warm. Die Auszeichnung und die Übersetzung ihres neuesten Buchs "Der junge Mann" durch Sonja Finck ins Deutsche sind Grund genug, es nochmals mit Annie Ernaux zu versuchen.
In Frankreich erschien "Le jeune homme" (Gallimard) im letzten Jahr und wurde zum Bestseller, allerdings in der Sparte "Sachbuch". Suhrkamp veröffentlicht ihre autobiografischen Texte aber unter dem Label "Belletristik". Klar ist, dass es sich auch bei "Der junge Mann" um eine Erzählung aus Annie Ernaux eigenem Leben handelt. Sie erzählt davon, wie sie mit Mitte Fünfzig eine Beziehung mit einem über 30 Jahre jüngeren Mann, einem Studenten aus der Arbeiterklasse einging.
Milieustudie und Analyse der Machtstrukturen
Neben der eigentlichen Beziehungsgeschichte spricht Annie Ernaux mit ihrem Text wie gewohnt verschiedene gesellschaftlich relevante Themen an. Auf der Hand liegt das Thema "ältere Frau - junger Liebhaber". Eine Verbindung die damals wie heute aufgrund der patriarchalen Strukturen viel negativere Reaktionen auslöst als ein älterer Mann mit einer jungen Geliebten. Hinzu kommt die Thematik der Klasse. Ihr Freund A. (sie nennt ihn nur so) stammt aus einer armen Familie, spricht und verhält sich entsprechend. Er gehört also zu der Klasse, der Annie Ernaux durch die Heirat mit ihrem Mann entflohen ist und die sie überwunden hat - so denkt sie zumindest. Des Weiteren geht es viel um Erinnerungen, das Aufwachsen und wie man etwas wahrnimmt, wenn man es zum ersten Mal macht oder im Gegenteil schon einmal erlebt hat.
"Er war Träger der Erinnerungen an meine erste Welt. (...) Er war die verkörperte Vergangenheit. " (S. 21)
Auch die Machtverhältnisse zwischen A. und ihr selbst - geprägt von der unterschiedlichen Lebenserfahrung, aber auch dem materiellen Wohlstand und der Klassenzugehörigkeit - nimmt Annie Ernaux recht selbstkritisch unter die Lupe. So gibt sie zu, dass ein Machtungleichgewicht zwischen ihnen besteht und sie das ausnützt. Als ihr die Liaison nichts mehr bringt, distanziert sie sich und trennt sich schliesslich. Auch, dass sie sich über den Sex mit A. zum Schreiben motiviert, schildert sie unumwunden. Die Trennung erfolgt dann wohl auch nicht zufällig nah an der Fertigstellung eines ihrer Bücher.
Meine Erfahrung der ersten Begegnung mit Annie Ernaux wiederholt sich also auch beim zweiten Versuch: An ihren Texten gefällt mir der soziologische Blick und die transportierte gesellschaftspolitische Kritik (insbesondere am Patriarchat). Ihre Werke machen die Erzählerin und damit die Autorin nicht gerade sympathisch. Das könnte man natürlich auch wieder als Stärke interpretieren, dass sie möglichst "objektiv" auf sich und ihr Leben blickt.
Fazit
"Der junge Mann" von Annie Ernaux ist eine interessante, kurze Lektüre mit berechtigter Kritik am patriarchalen Blick auf Beziehungen (vor allem, was das Alter der Partner*innen angeht). Der Text ist trotz seiner Kürze erstaunlich dicht und kriegt deshalb eine Leseempfehlung von mir, auch wenn ich dadurch nicht zum grössten Ernaux-Fan geworden bin.
Die Fakten
Annie Ernaux
Sonja Finck (Übersetzung aus dem Französischen)
Suhrkamp Verlag
48 Seiten
Erschienen am 16.01.2023
Hardcover mit Schutzumschlag
978-3-518-43110-8
PS: Herzlichen Dank an den Suhrkamp Verlag für das Rezensionsexemplar.
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