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Demon Copperhead

Mit "Demon Copperhead" von Barbara Kingsolver stelle ich euch heute einen epischen, preisgekrönten Roman vor. Ob ich die allgemeinen Lobeshymnen teilen kann? Das verrate ich in diesem Beitrag.


Demon Copperhead - Barbara Kingsolver (dtv 2024)

"Demon Copperhead" von Barbara Kingsolver wurde insbesondere mit dem Pulitzer-Preis und dem Women's Prize for Fiction ausgezeichnet. So viel vorneweg: Meiner Meinung nach verdient!


Barbara Kingsolver legt mit "Demon Copperhead" eine Neuerzählung von Charles Dickens' Klassiker und Welterfolg "David Copperfield" vor. Die Handlung ist in den südlichen Appalachen der 1990er-Jahre angesiedelt. Eine gebirgige Region in verschiedenen US-Bundesstaaten im Osten der USA, darunter Virginia, die über Jahrzehnte vom Kohleabbau lebte und bis heute strukturschwach bleibt und neben der Armut stark mit Suchtproblematiken der Bevölkerung zu kämpfen hat.


"Wenn die Mutter in ihrer Pisse liegt, rechts und links nichts als Pillenfläschchen, und man dem Kind, das sie rausgepresst hat, auf den Hintern patscht, damit es ein bisschen lebendiger wird, dann siehts für den kleinen Bastard nicht gut aus." / S. 10

Demon, der Ich-Erzähler des fast 900 Seiten starken Buches, heisst eigentlich Damon und ist Sohn einer alleinstehenden Teenage-Mutter, die in einem Trailer in den abgelegenen, bewaldeten Hügeln Virginias lebt. Seinen vollen Spitznamen Demon Copperhead hat er seinen leuchtend roten Haaren zu verdanken. Und diese hat er wiederum von seinem kurz vor seiner Geburt verstorbenen Vater, einem sogenannten "Melungeon" - also einem Menschen mit Schwarzen, indigenen und weissen Wurzeln - geerbt.


"Wenn der Vater den Löffel abgibt, bevor man selbst auf der Bildfläche erscheint, kann man deutlich zu viel Zeit seines Lebens damit verbringen, in dieses schwarze Loch zu starren." / S. 16


Überleben trotz Armut, Abhängigkeit und Perspektivlosigkeit

Die Fotos zum Buch entstanden rund um die Kupferminen Delaware in der Nähe von Copper Harbor und damit nicht in den Appalachen, sondern auf der Keweenaw Peninsula am Lake Superior. Die Region erlebte im 19. Jahrhundert den ersten Kupferboom der USA und war im 20. Jahrhundert von einem ähnlichen Niedergang betroffen wie die Kohleminen Virginias oder andere Bergbaugebiete, die von den Industriellen längst ausgebeutet und wieder verlassen worden sind.


Demons Mutter hat mit verschiedenen Süchten zu kämpfen - unter anderem mit Alkohol und Schmerzmitteln wie Oxycontin, das von Pharmafirmen skrupellos als ungefährliches Wundermittel vermarktet und von Ärzt*innen grosszügig verschrieben wurde (und weiterhin wird, vgl. Spotlight der New York Times oder "Imperium der Schmerzen"* von Patrick Radden Keefe über die Sackler-Dynastie und die Opioidkrise). Demon muss praktisch die Elternrolle übernehmen, damit ein Alltag überhaupt irgendwie möglich ist. Und als Demons Mutter auch noch eine toxische Beziehung eingeht, wird die familiäre Situation noch dramatischer, ja, lebensgefährlich.


"Ich kann noch heute spüren, dass Wut das Einzige war, was mich zusammenhielt. Wut auf alle, am meisten aber auf sie [Demons Mutter, A.d.R.], weil sie erst Stoner geheiratet und uns dann beide sitzen gelassen hatte, um sich in einen Himmel zu verpissen, wo sie machen konnte, was sie wollte, und ihr keiner mehr was tun konnte." / S. 175

Im Roman begleiten wir Demon beim Aufwachsen unter diesen wahnsinnig schwierigen Bedingungen und erleben all die harten Schläge mit, die er in seinem jungen Leben zu bewältigen hat. Dabei geht es um die genannte Suchtproblematik, um Armut, um Verlust, um Perspektivlosigkeit, das missbräuchliche Pflegekinderwesen, ein repressives Justizsystem etc. Demon erzählt uns erstaunlich humorvoll - aber auch ehrlich und direkt - von diesen Schicksalsschlägen und wie er versucht, sich irgendwie über Wasser zu halten. Er kommt zwar immer wieder vom Regen in die Traufe, aber strampelt sich auch unermüdlich ab und hält sich an rettenden Ankern wie der Nachbarsfamilie Peggot, seinem besten Freund Maggot oder seiner Leidenschaft fürs Comiczeichnen und später seinem Talent fürs Footballspielen fest.


Durch die Ich-Perspektive, den derben, aber auch witzigen Ton, die Vielfalt an Themen, Figuren und Anekdoten wird der Roman trotz seiner Länge (fast) nie langweilig. Kürzungspotenzial gäbe es sicher, aber Barbara Kingsolver schafft es doch, die Leser*innen immer bei der Stange zu halten. Das ist insbesondere dem jugendlichen, etwas altklugen Ton zu verdanken, den Demon anschlägt und den man dadurch umgehend ins Herz schliesst. So ging es zumindest mir.



Dickens in modern und amerikanisch

Die Parallelen zu Kingsolvers Inspirationsquelle "David Copperfield" sind augenfällig, nicht nur, was Themen (strukturelle Armut, Ausbeutung, Gewalt) angeht, sondern auch einzelne Figuren, die schon an den Namen schnell zu erkennen sind: Die Titelhelden David Copperfield und Demon Copperhead natürlich, die netten Peggottys bzw. Peggots, der Fiesling Uriah Heep bzw. U-Haul oder die rettende Tante in einer anderen Stadt, die Freundin Dora bzw. Dori und der Lehrer, der Davids bzw. Demons Talent erkennt.


Manche mögen Kingsolvers Darstellungen des Lebens in Lee County für klischiert halten. Und klar, sie lässt alle Problematiken dieser Region und der US-amerikanischen Gesellschaft in der Figur von Demon und seinem Umfeld aufeinandertreffen, was einem schnell als etwas "too much" erscheinen mag. Aber ich halte es trotzdem für realistisch und Kingsolver zeichnet ihre Figuren derart facettenreich, dass sie eben nicht reine Klischees sind. So leben Demon und seine Mutter zwar in einem Trailer, aber in einem durchaus gepflegten (und ich weiss aus unseren Ferien in Virginia und West Virginia, wie solche Trailersiedlungen aussehen können). Und die Autorin zeigt, dass die Menschen nicht mit den Hillbilly- oder Redneck-Klischees übereinstimmen, die Grossstadt-Amerikaner*innen auf sie projizieren, aber dass ganze Regionen und ihre Bevölkerung des Profit wegens systematisch ausgenutzt, kleingehalten und dann abgeschrieben werden.


Fazit

Barbara Kingsolvers Roman "Demon Copperhead" hat das Zeug zur Great American Novel. Es ist gleichzeitig ein bewegender und witziger Coming-of-Age- und Bildungsroman sowie eine literarische Verarbeitung struktureller Herausforderungen der Bevölkerung in den Appalachen. Wenn ihr etwas Zeit und Lust auf eine epische Geschichte mitbringt, kann ich euch die Lektüre nur von Herzen empfehlen!


Die Fakten

Barbara Kingsolver

Dirk van Gunsteren (Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch)

dtv Verlag

864 Seiten

Erschienen am 15.02.2024

Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen

ISBN : 978-3-423-28396-0




PS: Herzlichen Dank an den dtv Verlag für das Rezensionsexemplar.



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Ich habe "Demon Copperhead" im Zuge des diesjährigen #dickebüchercamp meiner Kollegin Marina aka @nordbreze gelesen. Auf Instagram findet ihr viele Posts unter dem Hashtag #dickebüchercamp mit 500 und mehr Seiten. Folgende dicke Schinken habe ich in den letzten Jahren im Juli/August gelesen:




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