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Das andere Tal

Mit "Das andere Tal" von Scott Alexander Howard habe ich mir wieder einmal einen Debütroman vorgenommen. Ob mich diese besondere Form des Zeitreiseromans überzeugt hat? Lest selbst!


Das andere Tal - Scott Alexander Howard (Diogenes 2024)

Odile, die Hauptprotagonistin von Scott Alexander Howards Debütroman "Das andere Tal" wird bald 16 Jahre alt. Damit steht sie vor der wichtigen Entscheidung, in welche Richtung ihr weiteres Leben gehen soll. Doch in Odiles Tal geht es dabei nicht "nur" um die Berufswahl, sondern um viel mehr. Denn zwei Schüler*innen eines Jahrgangs werden jeweils ins Conseil berufen. Das Conseil ist quasi Regierung und Kontrollorgan des Tals. Das Conseil stellt die Regeln auf und sorgt für deren Einhaltung. Warum das so wichtig ist? Weil westlich des Tals ein anderes Tal liegt, das eigentlich genau dasselbe ist, nur 20 Jahre zeitversetzt. Und östlich des Tals liegt ein weiteres, in dem Odile schon 36 Jahre alt ist.


Gefangen in der eigenen Zeit

Das Überschreiten der Grenzen ist Normalbürger*innen in der Regel strengstens verboten. Das Conseil erteilt aber Ausnahmebewilligungen für Besuche, wenn diese gut begründet werden können, zum Beispiel um einen im eigenen Tal verstorbenen Menschen nochmals wiederzusehen. Allerdings dürfen die Besucher*innen in keinerlei Austausch mit den Talbewohner*innen treten und nicht intervenieren, um den Lauf der Dinge nicht zu verändern. Denn damit würde sich ja auch der Lauf der Dinge im eigenen Tal verändern bzw. das entsprechende Ding würde nicht nur verschwinden, es hätte nie existiert. Deshalb werden die Besucher*innen jeweils von einem Mitglied des Conseils begleitet.


"Das steht bei jedem Eingreifen auf dem Spiel. Deswegen ist das Conseil auch von so entscheidender Bedeutung. Wir sind das Bollwerk gegen das Nichtsein. Dagegen, so vollständig ersetzt zu werden, dass um das Verlorene nie getrauert wird." / S. 92

Odiles Mutter wäre gerne Mitglied im Conseil geworden und wünscht sich diesen Weg auch für ihre Tochter. Deshalb fühlt sich Odile verpflichtet, es zu versuchen, denn welchen Beruf sie sonst ergreifen sollte, weiss sie auch nicht so recht. In die Bewerbungsphase fürs Conseil fällt ein Ereignis, das für Odile alles verändert: Sie beobachtet in der Nähe der Schule, wie zwei Besucher*innen, hinter Masken versteckt, Odiles Schulkameraden und neuen Schwarm Edme beobachten. Und damit ist für sie eigentlich klar, dass Edme bald sterben wird.


Jetzt steht sie vor der grossen Frage, ob sie nicht doch irgendwie in die Gegenwart eingreifen könnte, um die Zukunft ( bzw. die Gegenwart im nächsten Tal) zu verändern. Kann sie das Ereignis für sich behalten oder ist sie im Gegenteil sogar verpflichtet, es dem Conseil mitzuteilen? Wir begleiten Odile durch die weitere Bewerbungsphase am Conseil und durch alle Turbulenzen dieser prägenden Jugendzeit, ihre Freundschaften und erste Liebe mit Edme, die Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter und bei ihrem Selbstfindungsprozess. Im späteren Verlauf des Romans springen wir in ebendiese Zukunft. Was Odile da erwartet und wie das ihren Blick auf die Ereignisse und Entscheidungen in ihrer Jugend verändert, möchte ich aus Spoilergründen nicht vorwegnehmen.


"Es war seltsam, ausgerechnet heute an Edme erinnert zu werden. Es war das Jahr, in dem ich sechsunddreißig und sechsundfünfzig und sechzehn wurde." / S. 203

Scott Alexander Howard baut eine spannende Ausgangslage auf mit seinen Tälern, wirft philosophische Fragen auf und rückt mit Odile auch eine grundsätzlich interessante Protagonistin in den Fokus. Allerdings hat mich das "World building", wie man im Fantasy-Genre sagen würde, nicht ganz überzeugt. Meiner Meinung nach gelingt es dem kanadischen Autoren nicht, die Funktionsweise und Zusammenhänge zwischen den zeitversetzten Tälern schlüssig zu erklären. Die damit aufgeworfenen philosophischen Fragen über die Rolle der Individuen, das Schicksal und die Macht, dieses zu beeinflussen, sind zwar ebenfalls spannend, aber bleiben eben Fragen, für die ich im Roman keine Antworten oder - was ja auch gut wäre - zumindest Ansätze zur Beantwortung gefunden habe. Und schliesslich bleibt auch die Hauptfigur Odile seltsam blass, unnahbar und distanziert. Obwohl wir so viel Zeit mit ihr verbringen, haben wir am Ende immer noch das Gefühl, eine Fremde ohne Tiefe vor uns zu haben. Das ist besonders schade, weil Odile die Ich-Erzählerin des Romans ist und diese Perspektive ja prädestiniert wäre, uns Zugang zu ihren Gefühlen und Gedankengängen zu verschaffen.


Entsprechend langatmig wurde das über 450 Seiten dicke Buch am Ende auch für mich. Dies wurde verstärkt durch die sehr düstere Grundstimmung - kaum jemand scheint im Tal wirklich glücklich zu sein. Und das stark beschränkende Regelkorsett patriarchaler Prägung, das Odile umgibt, deprimiert zusätzlich. Dass Odile dieses in weiten Teilen nicht in seiner Systematik hinterfragt, sondern einfach hinnimmt bzw. nur ihre individuelle Situation zu verbessern versucht, bleibt mir ein weiteres Rätsel, das Odile nicht gerade glaubwürdiger und sympathischer macht als Figur.


Fazit

Wer gerne Bücher liest, in denen Zeitreisen (im weitesten Sinne) eine Rolle spielen, oder sich gerne ausmalt, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auch zusammenhängen könnten, wäre Zeit nicht linear, dem kann ich "Das andere Tal" empfehlen. Leider bleibt Scott Alexander Howard aber erzählerisch hinter den Möglichkeiten seines Stoffes zurück und fängt das auch sprachlich nicht auf.



Die Fakten

Scott Alexander Howard

Anke Caroline Burger (Übersetzung aus dem kanadischen Englisch)

Diogenes

464 Seiten

Erschienen am 20.03.2024

Hardcover

ISBN: 978-3-257-07282-2





PS: Herzlichen Dank an den Diogenes Verlag und an NetGalley für das digitale Rezensionsexemplar. Seitenzahlen beziehen sich auf die E-Book-Version und können von der Printversion abweichen.



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