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Schwestern, spitze Zähne und Familiengeheimnisse

Heute habe ich drei Kurztipps für euch im Gepäck. Die drei Romane von Amélie Nothomb, Marie Aubert und Julia Jost sind solide, haben mich aber auch nicht besonders begeistert. Kurz: Kann man lesen, muss man nicht unbedingt. Aber entscheidet selbst!


Amélie Nothomb, Marie Aubert und Julia Jost - drei Romane von 2024


Das Buch der Schwestern - Amélie Nothomb

Das Buch der Schwestern - Amélie Nothomb (Diogenes 2024)

Amélie Nothomb habe ich bisher nur auf Französisch gelesen und war grosser Fan ihres Sarkasmus und wie sie mit einfacher und präziser, aber eleganter Sprache den Finger in offene gesellschaftliche Wunden und zwischenmenschliche Verwerfungen legt. "Das Buch der Schwestern" handelt in erster Linie von Tristane, die in ihrem Leben keinen anderen Halt hat als sich selbst und ihre kleine Schwester Laetitia. Von ihren Eltern und den meisten anderen erwachsenen Personen werden die beiden total allein gelassen.

"Manchmal hatte sie [Mutter Nora, A.d.R] das Gefühl, es fehlte ihr etwas an Begeisterung für ihre Tochter, aber dann beruhigte sie sich damit, dass es bei Florent auch nicht anders war. Und ein so wunderbarer Mann konnte nicht irren. Im Übrigen empfand sie eine echte Zuneigung zu Tristane; sie wusste nur nicht, was sie mit ihr anfangen sollte." / S. 9

Die Parentifizierung von Kindern ist trotz des sarkastischen Tons und der erstaunlichen Resilienz der Schwestern schwer auszuhalten. Deshalb kann ich das Buch nur denjenigen empfehlen, die gut von realen Kindern, die krassestem Missbrauch (hauptsächlich in Form von Vernachlässigung) ausgesetzt sind, abstrahieren können.


"Zwei Seelen erkannten sich und hallten ineinander wider. Zwei Planeten richteten sich aneinander aus, so exakt, dass eine nur für sie hörbare Musik erklang, die nie mehr verstummen sollte. Dieses Halb-Licht-halb-Ton-Phänomen pulsierte zwischen ihnen sechzigmal pro Minute und für alle Ewigkeit." / S. 25

Leider fällt gegen Ende des Buchs die Qualität des Plots ab, so dass ich es auch eingefleischten Nothomb-Fans nicht uneingeschränkt empfehlen kann. Es ist nicht so, dass nichts mehr passiert, sondern eher, dass zu viel Beliebiges passiert und dann ist es abrupt fertig. Als Nothomb-Neulinge empfehle ich euch deshalb eher "Mit Staunen und Zittern"* und "Metaphysik der Röhren"*.


Das Buch der Schwestern - Amélie Nothomb, übersetzt von Brigitte Große, Diogenes Verlag, 160 Seiten, erschienen am 26.06.2024, Hardcover, ISBN: 978-3-257-07286-0



Eigentlich bin ich nicht so - Marie Aubert

Eigentlich bin ich nicht so - Marie Aubert (Rowohlt 2024)

Auf den Roman der Norwegerin Marie Aubert war ich nach ihren gelobten Kurzgeschichten "Kann ich mit zu dir?"* und dem Klappentext von "Eigentlich bin ich nicht so" sehr gespannt. Die Figurenzeichnung ist denn auch sehr spannend und regt zum eigenen Hinterfragen an: Wie sehen wir uns selbst, wie sehen uns andere und wie sind wir wirklich? Marie Aubert lässt die Figuren vielschichtig vor unseren Augen entstehen, indem sie immer wieder die Erzählperspektive wechselt und uns so unterschiedliche Blickwinkel auf dieselben Personen bzw. Situationen ermöglicht.


"Ich [Bård, A.d.R.] merkte ihr [seiner Frau Ellen, A.d.R.] an, dass sie zufrieden war, sie freute sich, dass sie einen Mann mit den richtigen Werten hatte, aus dem richtigen Holz geschnitzt, einen Mann, der sowas nie machen würde, nie im Leben." / S. 17

Marie Aubert spricht in ihrem Roman interessante Themen wie (queere) Beziehungen, Treue und Untreue, Körperbilder, Identitätsfindung etc. an und legt in Bezug auf Teenager Linnea sowie rückblickend für ihre Tante Hanne auch eine Coming-of-Age-Geschichte vor.


"Menschen wie Julia können leicht sagen, ich [Hanne, A.d.R.] solle mehr über Sachen sprechen. Sowas macht mich ganz kribbelig, und manchmal würde ich am liebsten entgegnen, dass es schön wäre, wenn sie ein bisschen weniger über Sachen sprechen würde." / S. 23

Leider kommt der Plot des Romans aber nie in Fahrt und die erhoffte kammerspielartige Explosion oder Implosion rund um Linneas Konfirmationsfeier bleibt aus. Trotz dieser Enttäuschung würde ich wieder zu Aubert greifen, denn in den Anfängen des Romans klingt an, welch feines Gespür sie für die vielen Facetten einer Persönlichkeit und die zwischenmenschlichen Beziehungen hat und wie frisch und modern sie diese zu Papier bringen kann. Für kommende Erzählungen oder Romane würde ich mir mehr Konsequenz, mehr Mut wünschen, die Handlung auf die Spitze zu treiben.


Eigentlich bin ich nicht so - Marie Aubert, übersetzt von Ursel Allenstein und Stefan Pluschkat, Rowohlt, 208 Seiten, erschienen am 12.08.2024, Hardcover, ISBN: 978-3-498-00288-6



Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht - Julia Jost

Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht - Julia Jost (Suhrkamp 2024)

Den diesjährigen Längster-Titel-des-Jahres-Wettbewerb verliert Julia Jost gegen Saša Stanišić, aber catchy ist er allemal, das muss ich zugeben. Deshalb und aufgrund einiger Lobeshymnen auf Instagram sowie der Nominierung für den Debütpreis des Österreichischen Buchpreises habe ich denn auch zu "Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht" gegriffen. Julia Jost nimmt uns mit auf eine Spurensuche in ihre Kindheit Ende der 1980er- bis in die 1990er-Jahre in einem Kärntner Dorf.


"Ich sehe eine Welt knieabwärts. Es riecht nach Diesel, und um den gerade noch in Betrieb gewesenen Auspuff scheint das Licht zu schwitzen." / S. 25

Eine Elfjährige versteckt sich unter dem Umzugslastwagen und beobachtet die verschiedenen Familienmitglieder und weitere Personen in ihrem Umfeld, die während des Umzugs auftauchen.


"Über Andreas erzählte man sich, er habe seinen Zwillingsbruder Kopernikus im Leib ihrer Mutter mit einem einzigen Happen verschluckt. Und dieser Zwillingsbruder lebe fortan in Andreas weiter, weswegen er auch die Stärke von zwei Buben hat." / S. 13

So seziert sie sowohl deren - teils problematische, weil u.a. nationalsozialistische - Vergangenheit als auch die gegenwärtigen Beziehungen und ihre Sollbruchstellen. Und sie geht der eigenen Identität als nicht stereotypes Mädchen und ihrer Liebe zu Freundin Luca nach. Hier haben wir es mit einer unzuverlässigen Erzählerin zu tun, die zudem oft unglaubwürdig erscheint. Denn sie erinnert sich an sehr viele frühere Begebenheiten (als sie sieben Jahre alt war) sehr detailliert und weiss auch übermässig viel über die Erwachsenen in ihrem Umfeld bzw. gibt Dialoge wieder, die sie in dem Alter gar nicht verstanden hätte. Ein deutlicher Wechsel der Erzählperspektive zu einem älteren Ich hätte der Geschichte zu mehr Glaubwürdigkeit verholfen, als es bei der elfjährigen Erzählerin zu belassen.


"Ich weiß noch, dass es sich anfühlte, als würde sich die Zeit schuppen, irgendwie so fühlte es sich an. Als stünde ich in einer Kulisse aus hohlen Pappmaschee-Lärchen. Alles war hohl, schuppte sich, und die Akustik passte plötzlich überhaupt nicht mehr zur Optik." / S. 22

Trotz einer anfänglich spannenden Spurensuche mit aufrüttelnden Geschehnissen, die wortwörtlich in Abgründe blicken lassen und einer ganz eigenen Sprache, gestaltete sich die Lektüre im Verlauf des Buches immer zäher. Der dem Buch vom Verlag attestierte "Drive und Witz" trägt leider nicht durch diese Coming-of-Age-Geschichte.


Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht - Julia Jost, Suhrkamp Verlag, 231 Seiten, erschienen am 12.02.2024, Hardcover, ISBN: 978-3-518-43167-2



PS: Herzlichen Dank an Suhrkamp, Diogenes und NetGalley für die digitalen Rezensionsexemplare und an Rowohlt für das Printexemplar. Die Seitenzahlen bei Nothomb und Jost beziehen sich auf die E-Books und können von den Printversionen abweichen.



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