22 Bahnen
Bevor der Sommer definitiv vorbei ist, möchte ich euch mit "22 Bahnen" von Caroline Wahl noch ein Lesehighlight dieses Sommers vorstellen.
Der Roman "22 Bahnen" ist das Debüt der deutschen Autorin Caroline Wahl, geboren 1995 in Mainz, wohnhaft in Rostock. Für ihren Debütroman wurde sie mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis 2023 ausgezeichnet. Ich hätte das Buch auch durchaus auf der Longlist des Deutschen Buchpreises gesehen. Das hat leider nicht geklappt.
Aber genug der Vorrede, worum geht es in "22 Bahnen"? Ich-Erzählerin Tilda studiert Mathematik, jobbt nebenbei an der Supermarktkasse und geht regelmässig ins Schwimmbad, wo sie konsequent ihre 22 Bahnen schwimmt und sich gerne auch mal alles vom Beckenboden aus anschaut. Das klingt erstmal nach normalem Student*innen-Leben. Aber Tilda kümmert sich auch noch um ihre kleine Schwester Ida, weil die alkoholkranke Mutter das nicht hinkriegt. Und faktisch bedeutet das auch, dass sie sich um ihre Mutter und den ganzen Haushalt kümmern muss.
"Ich atme den Chlorgeruch tief ein, schmeiße meinen Rucksack auf die Bank neben Ursulas bunten Korb, ziehe das Kleid über meinen Kopf, springe kopfüber ins Wasser, tauche in den tiefen Bereich bis zum Grund, setze mich auf den Boden und schaue mir das Geschehen im Becken von unten an." (S. 10)
Kein Wunder, will sie da auch einfach mal abtauchen. Denn Tildas Alltag ist mehr als voll, rein von der zeitlichen, aber auch von der psychischen Belastung her. Halt geben ihr da die Zahlen, die klar strukturierte Welt der Mathematik und die Regelmässigkeit des Bahnenziehens im Schwimmbad. Immer sind es 22 Bahnen. Bis eines Tages Viktor auftaucht, der ebenfalls 22 Bahnen schwimmt. Von da an legt Tilda immer eine oben drauf.
Zwischen dem eigenen Leben und der Sorge um die kleine Schwester
Der schöne Viktor fasziniert Tilda, lässt aber auch die Geschichte um den Tod seines kleinen Bruders Ivan wieder hochkommen. In wechselnden Erzählsträngen nimmt uns Tilda mit in ihre Gegenwart und in die Vergangenheit: Wie es ihrer Mutter immer schlechter geht. Wie sie nicht weiss, ob sie eine Stelle als Doktorandin im weit entfernten Berlin annehmen und ihre Schwester alleine zurücklassen kann. Wie es ist, ohne Abendbrottisch-Familie aufzuwachsen, nie in den Urlaub zu fahren, nach dem Abitur kein Zwischenjahr einzulegen. Und wie das war in diesem schicksalshaften Sommer vor 5 Jahren, als Ivan starb.
Caroline Wahl erzählt herrlich jung, in einfachen Sätzen, aber mit guten Bildern und voller Humor. Der lockere Erzählton kontrastiert sehr gut mit den harten Themen wie der Alkoholsucht der Mutter, die das Buch verhandelt. Bei diesem Roman kann man herzlich lachen, aber auch mit Tilda verzweifeln, weinen, sich im Zwiespalt der Gefühle verlieren. Die Geschwistergeschichte zwischen Tilda und Ida geht besonders ans Herz. Zwei so tolle Menschen, gefangen in den Lebensumständen mit der kranken Mutter, ohne Vater oder anderen unterstützenden Erwachsenen und ohne Hoffnung auf Besserung.
"Solange der Wind nachts auf mich fällt, denke ich, kann ich mich tagsüber in den Krieg da draußen stürzen. Gegen meine Mutter, gegen ihre Launen, gegen diese Kleinstadt. Und für Ida." (S. 14)
Das Buch ist inhaltlich grossartig, nimmt einen richtig mit, ist aber auch sprachlich ganz besonders. Ich liebe den lockeren Ton in Kombination mit trockenem Humor und unerwarteten Gedanken und Bildern. So etwa, wenn Tilda ihrer Freundin Marlene auf einer Party zuhört und dann sagt:
"Ich habe Marlene während ihres Monologs die ganze Zeit aufmerksam beobachtet, und ich bin mir sicher, dass sie keinmal Luft geholt hat. Sie wäre eine gute Taucherin. Vergeudetes Talent." (S. 19)
Ich könnte an dieser Stelle noch so viele gute Zitate bringen, aber ihr sollt das Buch ja selber noch lesen. Für mich ist es ein absolutes Highlight dieses Lesejahrs und ich möchte unbedingt noch mehr lesen von dieser jungen, eigenwilligen Stimme.
"Vielleicht wissen wir einfach nicht, was wir sagen sollen, weil jedes Wort das falsche und keines das richtige ist. Aber vielleicht gibt es auch keine falschen und richtigen Worte, und wir sollten endlich darüber reden, denke ich und schweige." (S. 20)
Fazit
Caroline Wahl schenkt uns mit "22 Bahnen" den Sommerroman des Jahres: Ergreifend, witzig und frisch erzählt. Die perfekte Kombination aus tiefgründiger Familien-, zarter Liebes- und starker Emanzipationsgeschichte. Ich-Erzählerin Tilda und ihrer kleinen Schwester Ida wäre ich auf ihrem Lebensweg noch über viele, viele weitere Seiten gefolgt. Eine ganz grosse Leseempfehlung, egal zu welcher Jahreszeit!
Die Fakten
Caroline Wahl
Dumont
208 Seiten
Erschienen am 18.04.2023
Hardcover mit Lesebändchen
ISBN: 978-3-8321-6803-2
PS: Herzlichen Dank an Dumont und Netgalley für das digitale Rezensionsexemplar.
PPS: Die Seitenangaben beziehen sich auf die E-Book-Version und können im Print etwas abweichen.
Noch mehr Schwimmbad-Bücher
Dieses Jahr scheinen besonders viele Bücher im Schwimmbad oder sonst irgendwo am oder im Wasser zu spielen, was sich auch in den vielen blauen Cover widerspiegelt. Auf Instagram findet ihr weitere Buchtipps rund ums Wasser unter den Hashtags #Sunkissedcoverbeach von @c_booksblog und #LiterarischeSchwimmwoche von @pinkfisch_royal.
Ich kann euch aus dieser Rubrik auch folgenden Roman nochmals wärmstens ans Herz legen:
Seemann vom Siebener - Arno Frank (Tropen Verlag 2023)
Weitere Bücher rund um Suchterkrankungen bei mint & malve
Silberregen glitzert nicht - Christine Werner (Mixtvision 2023), ab 11 Jahren
Pizza Girl - Jean Kyoung Frazier (Kampa 2022)
Das grüne Auge - Nathacha Appanah (Lenos Basel 2021)
Auf Erden sind wir kurz grandios - Ocean Vuong (Hanser Verlag 2019)
Loyalitäten - Delphine de Vigan (Dumont 2018)
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