Rebellinnen unerwünscht
Victoria Mas entführt uns in ihrem Roman "Die Tanzenden" ins Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts. In eine Zeit, in der Frauen, die irgendwie aus dem Rahmen fielen, mal eben weggesperrt wurden.
Psychiatrie und Frauenrechte
Die junge französische Autorin Victoria Mas hat sich für "Die Tanzenden" zwei spannenden Themen angenommen: den Frauenrechten und der Psychiatrie am Ende des 19. Jahrhunderts.
Dreh- und Angelpunkt ist die Salpêtrière (eigentlich Hôpital de la Salpêtrière) in Paris. Zu ihrer Zeit die wohl berühmteste psychiatrische Klinik Europas mit Platz für bis zu 8'000 Patient*innen, vornehmlich Frauen. Hier treffen sich Louise, Geneviève und Eugénie. Drei Frauen mit ganz unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Schicksalen.
"Eine Mülldeponie für all jene, die die öffentliche Ordnung gefährdeten. Eine Anstalt für Frauen, deren Empfindungen nicht den Erwartungen entsprachen. Ein Gefängnis für diejenigen, die sich einer eigenen Meinung schuldig gemacht hatten." (S. 34)
Wenn die eigene Meinung zum Verhängnis wird
Louise ist gerade 16 Jahre alt und sitzt schon seit rund 3 Jahren in der Salpêtrière. Eingewiesen wurde sie, weil sie von ihrem Onkel vergewaltigt wurde. Klingt absurd? Ist es natürlich aus heutiger Sicht. War aber damals ein gängiger Grund, um als alleinstehende und erst recht als mittellose Frau (Louise war ja eigentlich noch ein Kind) weggesperrt zu werden.
Auch Eugénie landet in der Salpêtrière, allerdings sehr unerwartet. Denn sie stammt aus gutem Hause, aus bürgerlichen Kreisen, die ihre Probleme normalerweise selbst zu lösen pflegen. Ihr wird zum Verhängnis, dass sie mit Geistern spricht und nicht daran denkt, in den Hafen der Ehe einzulaufen. Auch das damals ein hinreichender Grund, von der Familie verstossen und in die Psychiatrie eingeliefert zu werden.
Die beiden Patientinnen treffen in der Salpêtrière auf Geneviève, die Oberaufseherin der Geisteskranken, quasi die linke Hand des Professors. Sie stammt aus einem streng katholischen Haus auf dem Land, kann aber selber nicht viel mit der Kirche Anfangen. Sie glaubt mehr an die Wissenschaft als an Gott und hat früh beschlossen, ihr Glück auf eigene Faust in Paris zu suchen. Für ihren Beruf opfert die alleinstehende Krankenschwester alles auf.
In der Salpêtrière findet jährlich zu Mittfasten ein grosser Ball statt, zu dem die Pariser Hautevolee eingeladen ist. Liebend gerne nehmen die Schönen und Reichen von Paris daran teil, begaffen die "Verrückten" wie in einem Zoo. An diesem Abend überstürzen sich die Ereignisse und die drei Frauenschicksale verändern sich unumkehrbar.
Packender Roman mit Frauenfiguren im Fokus
"Die Tanzenden" ist sehr spannend und leicht geschrieben. Die gut 200 Seiten hatte ich im Nu durch. Der Roman spricht spannende Themen wie den Umgang mit psychischen Erkrankungen und Frauenrechte an und basiert auf wahren Begebenheiten aus dem 19. Jahrhundert. Dass der Roman in Frankreich ein derartiger Erfolg war und Preise - unter anderem für das beste Debüt - abgesahnt hat, wundert mich allerdings ein wenig.
Für mich sind die drei Erzählstimmen zu wenig unterscheidbar und zu wenig stringent. Das liegt wohl zu einem Teil am auktorialen Erzähler, der die Stimmen der drei Frauen verdeckt oder filtert und sprachlich glättet. Mehr herauszuholen wäre mit drei Ich-Erzählerinnen gewesen. Hinzu kommt, dass die Handlung zwar spannend ist, aber sich alles etwas zu "einfach" ergibt. Genauer kann ich das hier nicht ausführen, um nicht zu spoilern. Und schliesslich fehlte mir auch etwas der Tiefgang, was das durchaus sehr grosse Spannungsfeld der Frauenrechte und des Umgangs mit psychischen Erkrankungen angeht. Letzteres kann ich einem unterhaltsamen Roman aber verzeihen. Irgendwo stösst der Stoff vielleicht an die Grenzen des Genres.
Fazit
"Die Tanzenden" von Victoria Mas ist ein packender und süffig zu lesender Roman. Die 240 Seiten bringen uns das Schicksal dreier Frauen in Paris um 1885 näher. Drei Frauen, die alle auf ihre Art mit dem damaligen Frauenbild zu kämpfen hatten und in der psychiatrischen Anstalt Salpêtrière aufeinandertreffen. Ein unterhaltsamer Roman, der ein trauriges Kapitel der französischen Geschichte aufgreift und uns die Errungenschaften in Sachen Gleichberechtigung und den Fortschritt in der psychiatrischen Behandlung einmal mehr schätzen lässt.
Die Fakten
Julia Schoch (Übersetzung aus dem Französischen)
Piper
240 Seiten
Erschienen am 27.06.2020
Hardcover
ISBN: 978-3-492-07014-0
PS: Herzlichen Dank an den Piper Verlag für das Rezensionsexemplar.
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