Innehalten
Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk schreibt nicht nur Romane für Erwachsene, mit "Die verlorene Seele" hat sie zusammen mit Illustratorin Joanna Concejo ein ganz besonderes Kinderbuch geschaffen.
Im Rahmen der Aktion #olgalesen rund um die Werke von Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, organisiert von Karla Paul alias Buchkolumne, habe ich hier bereits über den Roman "Gesang der Fledermäuse" berichtet. "Die verlorene Seele" von Olga Tokarczuk und Joanna Concejo hat zumindest etwas mit dem ersten Buch gemeinsam: Es beginnt mit Schnee und Spuren im Schnee. Wir blicken aus der Vogelperspektive auf einen Park, sehen Menschen umhergehen, schlittschuhlaufen, auf der Bank sitzen und Spuren im Schnee hinterlassen. Dem Buch vorangestellt ist eine kurze Textpassage:
"Könnte uns jemand von oben betrachten, er sähe so viele Menschen auf der Welt in ständiger Eile, erhitzt und erschöpft, und er sähe ihre verlorenen Seelen, die nicht mehr Schritt halten können mit ihnen ..."
Die Geschichte wird von einer Seite Text eingeleitet, gefolgt von einer Abfolge von Concejos äusserst fein gezeichneten, nostalgischen, träumerischen Bildern, nur noch einmal unterbrochen von zwei Sätzen und abgerundet mit einem abschliessenden Textabschnitt.
Der Seele entflohen
Wie ein Märchen beginnt das Buch mit "Es war einmal...". In diesem Fall ein Mann namens Jan, der sehr viel und schnell arbeitete. Es ging ihm dabei vermeintlich ganz gut. Aber eines Tages wusste er nicht mehr, wo er gerade war. Nicht mal mehr an seinen Namen erinnerte er sich. Eine weise Ärztin stellte dann fest:
"Die Seelen wissen, dass sie ihre Menschen verloren haben, die Menschen aber bemerken oft nicht einmal, dass ihnen die eigene Seele abhandengekommen ist."
Und sie riet ihm, in Ruhe auf seine Seele zu warten. Nichts zu tun, ausser zu warten. Und das tat er, in einem kleinen Haus am Stadtrand.
Wie ein Fotoalbum
Und dieses Warten beobachten wir in Joanna Concejos Bildern, die sie auf kariertes Papier gebannt hat - passend zum Gefühl von Jan,
"... dass alles um ihn herum ganz flach würde, als bewegte er sich über die Seite eines Mathematikhefts, über ein Blatt Papier, das bedeckt war mit den gleichförmigen Reihen der Kästchen."
Auf den vergilbten Seiten sehen wir Jan in seinem Haus am Stadtrand und zwischendurch (immer auf der linken Seite, mit leichtem Blaustich) immer wieder Erinnerungsfetzen, Szenen aus seiner Kindheit und von späteren Jahren - beim Eisessen, auf einem Fest, am Strand. Jans Haare werden immer länger, die Pflanzen in seinem Haus immer üppiger. Beim Betrachten der atmosphärischen Bilder haben wir den Eindruck, ein altes Fotoalbum in den Händen zu halten, durch ein Leben zu blättern. Manchmal gesellen sich auch Tiere dazu - eine Katze und überraschender: ein Hirsch und ein Hase. Der Hirsch taucht als Miniatur später wieder auf. Die Pflanzen wachsen auch schon mal surrealistisch direkt aus dem Tisch.
Seele und Körper finden wieder zusammen
Eines Tages stand dann seine Seele - in Gestalt eines Kindes - vor der Türe. Mit der Rückkehr seiner Seele, zieht auch die Farbe wieder ins Bilderbuch und in Jans Leben ein. Die Pflanzen wuchern nun richtiggehend, verwandeln das Haus in einen Dschungel, schlagen Ranken mit orangen Blüten hoch in den Himmel. Und wie im Märchen leben die beiden noch lange und glücklich.
Traumhaft gestaltet Die ebenfalls polnische Illustratorin Joanna Concejo hat das Kinderbuch traumhaft gestaltet, im wahrsten Sinn des Wortes: ganz sanft, mit feinem Strich. Sie spielt mit Licht, mit halbtransparenten Seiten aus Pergamentpapier, mit surrealen Elementen. Zusammen erzählen die beiden einfühlsam die Geschichte eines Mannes, der sich selbst abhanden gekommen ist, gestresst und getrieben von der Arbeitswelt. Indem er aber einen guten Rat befolg und geduldig wartet, wird er wieder eins mit seiner Seele und damit sich selbst.
Fazit
Olga Tokarczuk und Joanna Concejo schenken uns mit ihrem Kinderbuch "Die verlorene Seele" einen Moment des Innehaltens in einer hektischen Welt. Sie erinnern daran, wie wichtig es ist, dass Körper und Seele in Einklang sind, im Gespräch miteinander, dass die beiden gut zueinander schauen. Ein Bilderbuch, das sich bestens als Geschenk eignet - für Kinder ab ca. 8 Jahren und alle Gehetzten.
Die Fakten
Olga Tokarczuk (Text)
Joanna Concejo (Illustration)
Lothar Quinkenstein (Übersetzung aus dem Polnischen)
Kampa Verlag (Gatsby)
48 Seiten
Erschienen am 11.12.2019
ISBN: 978-3-311-40001-1
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