Überwintern im Krieg
"Winterbienen" von Norbert Scheuer ist ein Buch gegen das Vergessen. Ob es mich über die Thematik hinaus überzeugt hat, erfahrt ihr in diesem Artikel.
"Winterbienen" erzählt die Geschichte von Egidius Arimond, der 1944 und 1945 nicht nur in seinem Haus in der Eifel ausharrt, sondern jüdische Flüchtlinge über die Grenze nach Belgien bringt. Er leidet unter Epilepsie, weshalb er nicht wehrtauglich ist und nicht eingezogen wurde. Da ihm immer wieder die Medikamente auszugehen drohen, häufen sich die Anfälle. Eine prekäre Situation, weil Menschen wie er im Nazi-Regime nahezu ausgemerzt wurden und ihm dasselbe Schicksal droht, wenn seine Erkrankung den falschen Leuten bekannt wird.
Die Bienen sind Arimonds Beschäftigung, Einnahmequelle und schliesslich auch Fluchthelferinnen. Denn er versteckt die jüdischen Flüchtlinge in Bienenstöcken, die er extra dafür präpariert hat. An die Flüchtlinge heftet Arimond Königinnen, so dass die Arbeiterbienen die Menschen komplett einhüllen und diese so sogar bei einer Kontrolle vor den Augen der Nazis verbergen.
Die Ausgangslage ist also äusserst spannend! Zudem erfahren wir aus dem Nachwort, dass es Egidius Arimond wirklich gegeben hat und dass Scheuer in den Besitz von dessen Notizen gelangt ist, die die Zeit in alten Bienenstöcken überdauert haben. Folgerichtig erzählt Scheuer die Geschichte in Form von Tagebucheinträgen, was uns sehr nah an Egidius Arimond heran- und mitten in den Krieg hineinführt. Auch das verspricht eigentlich ein an Authentizität und Intensität kaum zu übertreffendes Leseerlebnis.
Kalt, unnahbar, langatmig
Was wir dann aber lesen, ist leider über weite Strecken etwas ganz anderes: Es ist mir ein Rätsel, wie einem der tagebuchschreibende Arimond so fremd bleiben kann. Wie er so kalt und trocken von seinen doch sehr dramatischen Erlebnissen erzählt. Wie er kaum je auf seine Gefühle zu sprechen kommt. Wie er ganz abgebrüht die Kriegsabwesenheit der Männer ausnutzt, um mit deren Frauen ins Bett zu gehen.
"Ich kann nichts anderes tun, als die jetzige Welt mir so tief einzuprägen, dass ihr wirkliches Wesen und das mögliche Glück darin für mich sichtbar werden. Ich frage mich, was genau die Bienen von ihrer Welt erzählen, wenn sie in der Dunkelheit des Stockes auf ihren Waben tanzen." (S. 103)
Es ist ja möglich, dass die gefundenen Tagebucheinträge genauso unnahbar waren. Das Buch wird aber als Roman angepriesen und da würde ich erwarten, dass Norbert Scheuer durch seine fiktionalen Ergänzungen mehr Leben in das Buch bringt. Dass er uns das Handeln von Arimond ansatzweise verständlich oder durch die Wiedergabe einer innerlichen Zerrissenheit zumindest nachvollziehbar macht. Das tut er aber leider nicht oder es kam jedenfalls nicht so bei mir an. Auch nicht besser machen es die eingeflochtenen Fragmente von Ambrosius Arimond, einem Vorfahren von Egidius, der im Mittelalter scheinbar eine bestimmte Bienensorte über die Alpen nach Deutschland gebracht hat und dessen Aufzeichnungen Egidius nun aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt. Sie tragen nichts zur Handlung bei und bringen auch sonst keine Erhellung über die Herkunft der Bienen hinaus. Auch die Abbildungen von Bombern vermitteln keine Empathie für den vorliegenden Stoff bzw. die zugrundeliegende wahre Geschichte. Bienen wären mir lieber gewesen. Die Ausführungen über die Imkerei und das Leben der Bienen ist hingegen sehr interessant und es drängen sich an einigen Stellen Parallelen zum Kriegsgeschehen bzw. zum menschlichen Verhalten auf.
Weshalb "Winterbienen" sogar auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2019 stand, ist mir schleierhaft. Es ist nicht so, dass das Buch überhaupt nicht lesenswert wäre. Der Inhalt bleibt ja an sich spannend, aber man braucht schon einiges an Ausdauer und muss sich mit einem unnahbaren, unsympathischen Protagonisten anfreunden können, um es zu lesen.
Fazit
Der für den deutschen Buchpreis nominierte Roman "Winterbienen" von Norbert Scheuer bringt eine äusserst vielversprechende Geschichte auf leider ziemlich distanzierte, trockene Art herüber. Es hätte ein grossartiges Buch gegen das Vergessen sein können, hat mich aber leider nicht erreicht. Ich kann es daher nur Leuten empfehlen, die alles über den Zweiten Weltkrieg lesen oder sich sehr für die Imkerei interessieren. Allen anderen lege ich zum Beispiel "Die Nacht von Lissabon" von Erich Maria Remarque oder "Dem Paradies so fern" von Sophia Mott ans Herz.
Die Fakten
Norbert Scheuer
C.H. Beck
319 Seiten
Erschienen am 18.07.2019
ISBN: 978-3-406-73963-7
Like it? Pin it!
Magst du diese Buchbesprechung? Dann freue ich mich, wenn du sie dir auf Pinterest merkst.