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Zwischen Liebe und Verrat

Takis Würger wagt sich in seinem zweiten Roman "Stella" an richtig harten Stoff, mitten hinein in den Zweiten Weltkrieg, mitten in eine Gesellschaft und Einzelschicksale voller Zwiespalt. Wie mir das gefallen hat? Ihr erfahrt es in diesem Blogbeitrag.

Stella, Takis Würger, Hanser Verlag, 2019

Eine wahre Geschichte

Stella gab es wirklich. Sie hiess Stella Goldschlag. Wie der Name vermuten lässt, war sie Jüdin. Mit ihren blonden Haaren und hellen Augen war sie aber nicht als solche zu erkennen und das machte sie sich zu Nutze. Sie arbeitete mit der Gestapo zusammen und denunzierte zahlreiche Juden in Berlin. Vorerst, um ihre Eltern vor der Deportation zu schützen. Was sie danach dazu bewegte, dennoch weiterhin als "Greiferin" tätig zu sein, ist unklar.

Mehr wusste ich vor der Lektüre des Buches nicht und wollte ich auch nicht wissen. Und das hat sich für mich bewährt, um mich unvoreingenommen auf das Buch und seine Protagonisten einlassen zu können. Deshalb erzähle ich auch an dieser Stelle nicht mehr über die historischen Hintergründe.

Der Junge vom Genfersee

Takis Würger erzählt die Geschichte aus der Sicht von Friedrich, einem jungen Mann deutscher Abstammung, der am Genfersee aufwächst und gemäss seiner Mutter zum berühmten Maler bestimmt ist. Er scheint seine Bestimmung nicht zu hinterfragen und macht sich 1942 auf nach Berlin an eine Zeichenschule. Nicht nur, um zu zeichnen, sondern auch, weil er mit eigenen Augen sehen möchte, ob die Gerüchte über Möbelwagen stimmen, die im Berliner Scheunenviertel die Juden einsammeln.

Im pulsierenden Berlin

An der Zeichenschule lernt Friedrich die junge Frau kennen, die den Schülern Modell sitzt. Sie stellt sich ihm als Kristin vor. Die beiden werden schnell ein Paar. Als Leser ahnt man rasch, dass hinter Kristin eigentlich Stella steckt. Man weiss aber nicht so genau, ob Kristin sich vor allem wegen dem Schweizer Pass für Friedrich interessiert oder ob sie sich tatsächlich auch in ihn verliebt hat. Kristin hat in der Beziehung das Heft in der Hand, lädt Friedrich ein, ihr beim Singen in illegalen Jazzclubs zuzuhören, geniesst den Luxus im Grand Hotel - Friedrichs bescheidener Bleibe am Pariser Platz, nimmt ihn mit an Feste der Nationalsozialisten, kommt und geht, wie sie will. Wo sie wohnt, wie sie mit Nachnamen heisst und ob sie tatsächlich Lateinunterricht gibt, weiss Friedrich nicht. Oft bleibt sie tagelang verschwunden und eines Tages kommt sie kahlgeschoren und übel zugerichtet bei Friedrich an. Die Gestapo hat sie enttarnt und gefoltert. Jetzt will sie ihre Eltern retten und wird zur Denunziantin.

Zwischen Normalität und Wahnsinn

Takis Würger verwickelt Friedrich und uns in seinem Roman gekonnt in den Widerspruch zwischen dem "normalen" Leben, dem nächtlichen Spass in illegalen Musikclubs, einer zarten Liebesgeschichte, dem Luxusleben ohne Entbehrungen im Grand Hotel und dem gleichzeitig tobenden Krieg, dem Bombenalarm, den schikanierten und verschwindenden Juden.

Er schafft das einerseits mit den Einstiegen in die Kapitel, in denen er scheinbar willkürliche historische Ereignisse aufzählt: Die zehn Gebote von Goebbels stehen neben der Geburt von Muhammad Ali, das Verbot für Juden, Haustiere zu halten, neben der ersten Goldenen Schallplatte der Musikgeschichte. Eine weitere Ebene bilden die Auszüge aus den Gerichtsakten eines sowjetischen Militärtribunals. Anhand der darin enthaltenen Zeugenaussagen, erfahren wir langsam immer genauer, was Stella getan hat. Und schliesslich befinden sich auch die einzelnen Protagonisten des Buches dauernd in einem Zwiespalt, werden immer wieder vom echten Leben, von den Abgründen der Judenverfolgung, von der Willkür der Nationalsozialisten, von gegenseitigem Misstrauen eingeholt.

Takis Würger erzählt in einfacher Sprache, in kurzen und klaren Sätzen. Trotzdem schwingt da ganz viel zwischen den Zeilen mit. Er schafft es auch mit der ganz schlichten Sprache, tiefe Gefühle, Zerrissenheit, Unsicherheit, Momente des Glücks, Verrat, Ohnmacht und vieles mehr zu transportieren. Und ein, zwei pathetische Sätze sind auch drin - das gibt er im Nachwort selber zu. Insgesamt finde ich den einfachen Stil genau richtig für diese Geschichte, die selber schon genug Sprengstoff enthält, uns in Abgründe schauen lässt, sowohl der damaligen Politik und Gesellschaft als auch der menschlichen Seele an und für sich.

Fazit

Takis Würgers zweiten Roman "Stella" kann ich allen empfehlen, die sich für menschliche Schicksale im Zweiten Weltkrieg interessieren und das für einmal mit ziemlich ungewohntem Fokus auf eine Jüdin, die andere Juden verraten hat, und aus der speziellen Perspektive eines privilegierten jungen Schweizers. Das Buch ist sehr, sehr gut aufgebaut, knapp und doch intensiv formuliert. Einzig, dass wir nicht mehr von Stella erfahren, ihre Sicht der Dinge, ihre Beweggründe für ihre Taten nicht kennenlernen, ist ein kleiner Wermutstropfen. Nichtsdestotrotz spreche ich für "Stella" eine grosse Leseempfehlung aus. Mir hat es deutlich besser gefallen als sein Debüt "Der Club". Und so bin ich schon jetzt gespannt auf mehr aus der Feder von Takis Würger.

PS: Sehr interessant sind die "5 Fragen an Takis Würger", die ihr auf der Website des Hanser Verlags findet.

Herzlichen Dank an Takis Würger und den Hanser Verlag für das Rezensionsexemplar.

Die Fakten

Stella

Takis Würger

Hanser Verlag

224 Seiten

Erschienen am 11.01.2019

ISBN: 978-3-446-25993-5

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Buchtipp MINT & MALVE: Stella, Takis Würger, Hanser Verlag, 2019

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