Von Hexern, Narren und Winterkönigen
Mit "Tyll" entführt uns Daniel Kehlmann mitten in die Wirren des Dreissigjährigen Krieges und erzählt die Geschichte von Till Eulenspiegel oder eben "Tyll Ulenspiegel" neu. Ein opulentes, düsteres Werk!
Daniel Kehlmann nimmt sich in seinem neusten Roman einmal mehr historischem Stoff an. Mit Tyll finden wir uns mitten im Dreissigjährigen Krieg (1618-1648), in einem Durcheinander der Fürsten, Kurfürsten und Könige, zwischen Schlachten und Religionskämpfen, im Sumpf von Aberglaube, Alchemie und Hexenprozessen. Von Letzterem ist auch Tylls Vater Claus betroffen. Er wird vom Jesuiten Tesimond und dem Weltweisen Athanasius Kircher der Hexerei und des Pakts mit dem Teufel bezichtigt. Schnell wird ihm der Prozess gemacht, eine ausweglose Farce, das ist schnell klar.
Für Tyll wird es im kleinen Dorf zu gefährlich, als Tagelöhner möchte er sich nicht durchschlagen und so flieht er mit der Bäckerstochter Nele. Die beiden schliessen sich dem fahrenden Volk an. Tyll ist begnadeter Seiltänzer und Jongleur, Nele tanzt und schauspielert meisterhaft. Schnell eilt Tyll sein guter Ruf als Gaukler voraus. Irgendwie gelangen Tyll und Nele an den Hof von Friedrich von Böhmen, dem Winterkönig, und seiner Gemahlin Elisabeth Stuart. Ebendieser Friedrich hatte den Dreissigjährigen Krieg ausgelöst, indem er die Krone Böhmens angenommen und sich so gegen den Kaiser gestellt hatte. Wie allen Leuten, hält Tyll auch dem Königspaar unverfroren den Spiegel vor. Seine Witze, Anspielungen und Fragen sind voller schmerzhafter Ehrlichkeit. Eine Ehrlichkeit, die sich in der damaligen Zeit nur Gaukler leisten konnten, alle anderen wären dafür kurzerhand gehängt worden.
Auch Tyll kann sich dem Krieg nicht dauerhaft entziehen, im zweitletzten Teil des Romans sitzt er als Mineur im Schützengraben, verschüttet, ohne Aussicht aufs Überleben. Aber Tyll hat beschlossen, nicht zu sterben. Wenn das einer schaffen kann, dann der Ulenspiegel. Für mich eine der stärksten Szenen des Buchs. Erdrückend die Erde, die auf den Mineuren lastet, förmlich spürbar der Sauerstoffmangel, der sie verrückt werden, sie halluzinieren lässt.
Kehlmann verstrickt in seinem opulenten Roman geschickt das Schicksal von Tyll mit demjenigen zahlreicher Persönlichkeiten - neben dem Königspaar, mit dem Schriftsteller Martin von Wolkenstein, mit dem Arzt Paul Fleming und dem bereits erwähnten Weltweisen Athanasius Kircher, dessen Karriere aus einem einzigen Lügengebäude besteht. Ich mochte zwar nicht alle Protagonisten, v.a. Tyll blieb mir bis zum Schluss unsympathisch, aber das tut dem Lesegenuss keinen Abbruch und ist vom Autor wohl grösstenteils so gewollt. Einzige Mankos sind für mich einige Längen, die auf den 480 Seiten entstehen, und eine gewisse Verwirrung ob des unendlichen Aufgebots an Personal.
Fazit
Daniel Kehlmanns "Tyll" ist zweifellos ein besonderes Werk, sprachgewaltig, spannend im Aufbau, mit geschickt verwobenen historischen Begebenheiten und Persönlichkeiten. Sehr eindrücklich ist auch, wie es Kehlmann gelingt, uns Einblick ins Seelenleben so unterschiedlicher Protagonisten - vom Müllerssohn, über die Winterkönigin, bis zum fanatischen Gelehrten - zu geben und von düsteren, traurigen, brutalen Ereignissen doch leichtfüssig und ironisch zu erzählen - ganz so wie Tyll auf dem hohen Seil zu tanzen wusste.
Die Fakten
Tyll
Daniel Kehlmann
Rowohlt
480 Seiten
Erschienen am 09.10.2017
ISBN: 978-3-498-03567-9